SCHLANGENWALD
zischte Paula. Sie bereute, dass sie Markus von der Reise erzählt hatte. Es war nicht das erste Mal, dass er sich nicht für sie oder über ihre Erfolge freuen konnte. Seine Missgunst machte ihr von allen Eigenheiten am meisten zu schaffen. In den vergangenen Monaten hatte sich einiges angesammelt, das sie störte. Zum Beispiel übernachtete er unter der Woche nie bei ihr, weil er, so seine Begründung, einen „erholsamen Schlaf“ brauchte. Anstatt am nächsten Morgen von ihrer Wohnung aus in den Tag zu starten, machte er sich lieber mitten in der Nacht auf den Heimweg. In Momenten wie diesem, in denen der Groll in ihr wuchs, fiel ihr alles ein, was sie jemals an ihm auszusetzen gehabt hatte, und schon sprudelte sie los: Er sei unromantisch und mitunter langweilig, er könne sie nicht verstehen, würde sich nie für sie freuen, sondern immer ihre Erfolge madig machen. Sie frage sich in letzter Zeit immer häufiger, ob ihre Beziehung überhaupt noch eine Zukunft habe und noch vieles mehr. Paula warf ihm alles an den Kopf, was sie störte, und bereute ihre Vorwürfe, kaum dass sie diese ausgesprochen hatte. Doch gesagt war gesagt.
Nach ihrem Ausbruch herrschte Schweigen. Die Landschaft zog schneller als mit siebzig Stundenkilometern, die auf diesem Straßenstück erlaubt waren, an ihnen vorüber. Paula hütete sich, Markus, der wütend auf das Gaspedal trat, weiter zureizen. Stattdessen konzentrierte sie sich auf die Umgebung. Gerade rasten sie am Nussdorfer Wehr vorbei. Ein Jugendstilbau des Architekten und Stadtplaners Otto Wagner, der mit seinem Baustil Wien vielerorts geprägt hatte. Ende des 19. Jahrhunderts war das Wehr entstanden, das aufgrund seiner exponierten Lage wie ein repräsentatives Stadttor gestaltet war: mit mächtigen Pfeilern und bronzenen Löwenfiguren.
Dahinter lag das Verwaltungsgebäude, das im obersten Stockwerk rundum eine durchlaufende Fensterfront hatte. Jedes Mal, wenn Paula hier vorbeifuhr, dachte sie, wie schön es wäre, dort zu wohnen. Mit Blick auf das Wasser, auf dem Schwäne und Boote schaukelten, umgeben vom Grün der umliegenden Wiesen und Bäume, und doch nicht weit von all den Annehmlichkeiten der pulsierenden Großstadt entfernt.
Nach einer Weile hatte sich Markus wieder beruhigt.
„Es tut mir leid“, murmelte er, doch es klang überhaupt nicht nach einer Entschuldigung. „Ich hatte heute einen ziemlich miesen Tag, und dann kommst du auch noch mit so einer Nachricht daher.“ Der Chefredakteur hatte ihm mitgeteilt, dass einige Redakteure entlassen werden müssten. Die Wirtschaftskrise forderte ihre Opfer. Da Markus keine Familie zu ernähren hatte, standen die Chancen für ihn sehr schlecht, im Team zu bleiben. Obwohl er mit Leib und Seele Journalist war.
Was sollte Paula darauf sagen? Sie war froh, dass sie gerade heute ihre eigene Krise überwunden hatte. Anstatt ihm zu antworten, legte sie ihre Hand auf seinen Oberschenkel. Fürs Erste hatte sie genug gesagt.
Nach zwei Ampeln, einer Rechtskurve und einigen Metern befanden sie sich mitten in einer ländlichen Idylle. Markus fuhr über eine kleine Brücke und bremste den Wagen kurze Zeit später abrupt ab.
„Wir sind da! Da vorne, das knallgelbe Haus ist es.“
Als sie Hand in Hand zur Eingangstür schlenderten, erzählteMarkus, dass auf der Party auch ein Freund sein würde, ein Surfer, der – welch ein Zufall – in der Nähe des Arenalsees in Costa Rica ein Haus baute.
„Es hat ihm bei seinem ersten Besuch so gut dort gefallen, dass er sich ein Grundstück gekauft hat. Seitdem fährt er jedes Jahr für drei Monate hin und zählt die Tage bis zur Pensionierung. Die restlichen neun Monate arbeitet er wie ein Besessener, um das nötige Geld zu verdienen.“
Wie eigenartig: Bis vor wenigen Stunden hatte Paula keine Ahnung gehabt, wo genau Costa Rica auf der Landkarte zu finden war. Mittlerweile lag ein Stapel Unterlagen auf ihrem Schreibtisch, und nun erfuhr sie auch noch, dass Markus einen Freund hatte, der dort ein Haus baute. Die Welt war ein globales Dorf und die selektive Wahrnehmung ein Hund. Wahrscheinlich würden Paula in nächster Zeit alle möglichen Informationen in Zeitungen, im Fernsehen und im näheren Umfeld auffallen, die einen Bezug zu dem Land hatten.
„Wer weiß, vielleicht kann ich dich sogar auf deiner Reise begleiten? Wenn sie mich feuern, hätte ich Zeit genug.“
Bloß das nicht, schoss es Paula durch den Kopf. Die Vorstellung, diese Reise gemeinsam mit Markus zu machen, behagte ihr
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