Schlecht aufgelegt (German Edition)
Ton. «Ich habe ganz viel geweint.»
Paul brach augenblicklich das Herz in der Mitte durch, es krachte fürchterlich, und die Splitter bohrten sich von innen in die Knochen und das Fleisch.
«Ich vermisse dich auch, mein Schatz», sagte er und verspürte einen akuten Heiserkeitsschub. Er räusperte sich.
«Paul, sag ihr, sie soll jetzt schlafen, damit sie morgen in den Kindergarten gehen kann», ertönte Marinas Stimme. «Deshalb rufen wir an. Ich brauche die Zeit zum Arbeiten.»
«Du hast Mama ja gehört», sagte Paul. «Sollen wir morgen mal wieder bildtelefonieren?»
«Das ist nicht dasselbe», sagte Luna. «Du sollst mich in den Kindergarten bringen.»
«Das kann ich nicht, mein Schatz», hörte Paul sich sagen. «Ihr seid in Barcelona, und ich bin in Berlin.»
«Aber wann kommst du denn?»
«Bald», sagte Paul und wusste, er musste es wirklich tun. Er musste da hin, sein Kind in die Arme nehmen und mit ihm Eis essen gehen. Egal, ob es Ärger mit Marina oder Javier oder seinen spanischen Stierkampffreunden gab, wenn er denn welche hatte. Bestimmt hatte er welche. Sollten sie doch versuchen, ihn aufzuspießen, Javier und seine Toreros. Luna Uhlenbrock war seine, Paul Uhlenbrocks, Tochter, und er hatte weder ihr noch sonst jemandem etwas getan; niemand durfte ihn daran hindern, ein Vater zu sein. Zumindest hin und wieder.
«Mama bringt dich morgen in den Kindergarten», sagte er.
«Tut sie nicht», erwiderte Luna. «Javier macht das. Aber du sollst das machen.»
Paul musste sich sehr zusammenreißen, um keinen Anfall zu kriegen. «Okay, dann macht das Javier. Ist Javier nett zu dir, mein Schatz?»
«Stell nicht solche Fragen, Paul», schoss Marinas Stimme dazwischen. Klar, sie hatte auf Freisprechen gestellt, damit er auch ja nichts Falsches sagte. «Natürlich ist er das», ergänzte sie.
«Ist er?», fragte Paul erneut.
«Ja», sagte Luna, aber sie klang nicht besonders überzeugend.
«Dann sagst du dem Javier einen schönen Gruß von mir, und er soll gut auf dich aufpassen.» Paul klang so freundlich wie in den wenigen guten Momenten seiner täglichen Arbeit, obwohl er nur seelenlose Worthülsen von sich gab und es in ihm knirschte, wie wenn man auf einen nur leicht zugefrorenen See tritt. «Und ich werde dich besuchen. Spätestens, wenn du ganz bald in die Schule kommst. Ich spreche mit deiner Mutter. Okay?»
«Okay.»
«Dann geh jetzt ins Bett», sagte Paul.
«Gute Nacht, Papa.»
«Gute Nacht, Luna. Schlaf schön.»
Es klickte in der Leitung, Luna hatte aufgelegt. Paul verfiel für einen Moment in seine übliche Melancholie. Dann wollte er das Handy auf den Boden schmeißen und darauf herumtreten. Stattdessen steckte er es in seine Hosentasche, nur um es wieder herauszuholen und Kulis Nummer anzuwählen. Es klingelte vier Mal, dann ging Kuli endlich ran.
«Jetzt ist ganz schlecht, Paul», sagte er atemlos.
«Wieso? Wo bist du denn? Und wo warst du überhaupt die ganze Zeit?», fragte Paul mit einer Mischung aus Ärger, Erleichterung und Sorge, wobei Ersteres selbstverständlich überwog.
«Erzähl ich dir alles morgen. Aua», sagte Kuli und lachte. «Lass das.»
«Wer jetzt?»
«Nicht du.»
«Na, dir geht’s ja offenbar gut», stellte Paul fest und spürte einen kleinen Stachel des Neids.
«Mir geht’s super», strahlte Kuli durchs Telefon. «Wir sprechen uns morgen, ja?»
«Um 10 Uhr», sagte Paul. «Manteuffelstraße 15. Das ist in Kreuzberg.»
«Kreuzberg», wiederholte Kuli und lachte erneut auf. «Jetzt lass das sein», schimpfte er spaßhaft in irgendeine Richtung. Ein Knurren war durch die Leitung zu hören. Ein weibliches Knurren, das wie das Knurren eines Hundes klingen sollte.
«Hm. Ja», maulte Paul. «Aber Kreuzberg 36 ist das, Nähe Kottbusser Tor.»
«Gut», rief Kuli. «Kottbusser Tor. Super. Gute Nacht.»
Und damit hatte er aufgelegt. Ein Witz, sich über den Sorgen gemacht zu haben, dachte Paul und stand immer noch da und wusste immer noch nicht, wie und wo er die Nacht verbringen sollte. So richtig viele Optionen gab es ja nicht. Er seufzte, zögerte, zauderte, zögerte aus guten Gründen noch einmal und wählte Sophies Nummer an.
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Auseinander gelebt
S o. Guten Morgen», sagte Kuli, als er pünktlich um kurz vor zehn am Haus in der Manteuffelstraße 15 ankam. Nicht einmal der drogenverseuchte U-Bahnhof am Kottbusser Tor hatte ihm die Laune verderben können. In ihm strahlte und schrie alles nach Sonne, sein Körper glühte vor
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