Schlecht aufgelegt (German Edition)
nur meckern konnte ja jeder.
Kuli jedoch winkte ab. «Nee, das war mir erst klar, nachdem ich den Brief geöffnet hatte.»
Er nahm Paul den Umschlag wieder ab und stopfte ihn zurück in seine Hosentasche. «Warte mal.» Er machte zwei Schritte zu einem Regal nahe der Tür und zog eine Platte heraus, auf der drei Typen abgebildet waren. Dreams So Real , las Paul.
«Hier. Rough Night In Jericho heißt die», erklärte Kuli, «gute Band, schöner Gitarrenpop, das war das Debüt, nach zwei Alben war dann leider Schluss».
Paul heuchelte kein Interesse; da kam ja hoffentlich noch was Sinnvolles, Kuli konnte jetzt ja nicht ernsthaft erneut Musik auflegen wollen.
Und tatsächlich: Kuli zog das Innencover heraus und förderte ein Foto zutage, das er darin versteckt hatte.
«Das hier war in dem Umschlag. Aber Vorsicht. Nichts für schwache Nerven», sagte er und reichte das Foto an Paul weiter. Dem stockte der Atem.
«Mann, das ist mal ein … ein Foto», stammelte er. «Was für ein Schweinkram.»
Eine Frau und ein Mann hatten sich kunstvoll ineinander verkeilt. Auf welcher Unterlage war nur zu vermuten, es sah nach einer Art Pritsche aus. Die Frau trug ein schwarzes Leder-Nichts, das an den entscheidenden Stellen entblößt war, sowie ein Paar ausgesprochen hochhackiger, glänzender, weißer Stiefel, die zum Wandern in freier Natur doch eher ungeeignet erschienen. Sie lachte von schräg unten in die Kamera, die sie mit ausgestrecktem Arm selbst betätigt hatte. In der anderen Hand hielt sie deutlich sichtbar eine Leine, die am Hals des auf ihr liegenden Mannes endete, von dem man zwar nur den Kopf und einen Teil des Oberkörpers sehen konnte, der aber ebenfalls in schwarzes, allerdings geschlossenes Leder gekleidet war. Zusätzlich hatte der Mann eine Ledermaske getragen, die er wohl gerade abgenommen hatte und noch in seiner linken Hand hielt. Mit der rechten Hand würgte er die Frau, die dies aber durchaus zu genießen schien. Der Mann war verschwitzt und starrte mit verzerrten Gesichtszügen und weit aufgerissenen Augen genau in das Objektiv der Kamera – ob das Teil des Spiels, sie also die Rollen getauscht hatten, oder ob er schlichtweg schockiert über das Foto war, ließ sich unmöglich sagen. Das Bild war etwas unscharf und verschwommen, vielleicht mit einem Handy aufgenommen worden.
«Okay», sagte Paul und zeigte auf die Frau. «Das ist Lisa Gerhard, oder?»
Kuli guckte noch einmal genauer hin. «Ja, sieht so aus», sagte er fachmännisch. «Was man so erkennen kann, ja. Scheint sie ja mächtig angetörnt zu haben, das Bild.»
«Aber wer ist denn der Typ mit der Gasmaske, der sie da würgt?» Paul spürte, dass die Antwort in ihm wohnte, irgendwo weit unten in der Bauchgegend, und dass sie sich bereits auf den langen und beschwerlichen Weg an die Oberfläche gemacht hatte.
«Ihr Freund?», meinte Kuli harmlos.
«Kuli, warum sollte die dir ein Foto von sich und ihrem Freund in den Briefkasten stecken?»
Kuli kratzte sich am Kopf. «Vielleicht um mir zu sagen, dass ich für sie nicht interessant genug bin oder nicht attraktiv genug, dass sie schon vergeben ist und ich die Finger von ihr lassen soll von wegen dem Fernseher und so?»
Paul stutzte. Das musste man Kuli lassen, er schonte niemanden, auch nicht sich selbst. «Bisschen radikale Methode, oder?», fragte er rhetorisch und betrachtete noch einmal den Mann. Er fühlte eine immer größere Unruhe in sich aufsteigen. Wer war das denn bloß?
«Der Typ kommt mir irgendwie bekannt vor», sagte Kuli.
«Ja, ich weiß auch nicht …», begann Paul, und dann hatte er’s. Da war sie. Die Eingebung. Die Erkenntnis. Die Erleuchtung. Die größte anzunehmende Unwahrscheinlichkeit.
«Ach, das kann doch nicht sein», argumentierte er mehr zu sich selbst.
«Was denn?», fragte Kuli.
«Das ist er nicht», sagte Paul.
«Wer denn?», fragte Kuli.
«Völliger Schwachsinn ist das», sagte Paul.
«Dann ist ja gut», sagte Kuli und vertiefte sich noch einmal in das Foto. Paul schwieg einen Moment, aber dann musste es raus.
«Also, bei einem Ähnlichkeitswettbewerb würde der auf jeden Fall …» Er verstummte ein weiteres Mal.
«Wenn du es jetzt nicht sagst, brauchst du heute Abend überhaupt nichts mehr zu sagen», stellte Kuli fest.
«Findest du nicht, der sieht aus wie Henning Bürger?», platzte es aus Paul heraus.
Eine Pause entstand. Paul blickte Kuli an, Kuli blickte Paul an. Dann fing Kuli an zu lachen, es war ein sehr plötzliches, sehr tiefes
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