Schlecht aufgelegt (German Edition)
Kuli.
«Nix», wehrte sich Paul. «Endlich passiert mal was! Wenn du hier weiter den Telefonhansel machen und deine ganze Kohle in abgewanzte Vinylscheiße stecken und ansonsten nichts als essen, schlafen und scheißen willst, ist das deine Sache. Aber das hier, Kuli, das hier, das ist unsere Chance, das ist unser Ding, das sind unsere fünfzehn Minuten. Wir durchleuchten ihr Umfeld! So heißt das doch. Vielleicht weiß ja jemand was!»
Kuli schwieg einen Moment. «Abgewanzte Vinylscheiße?», fragte er dann stirnrunzelnd.
«Ist nicht so gemeint», sagte Paul und hatte das genau so gemeint.
«Okay», sagte Kuli. Dann schaute er sich noch einmal das Foto an. «Meinst du wirklich?», fragte er leise. «Wir und so was?»
«Ja, klar», antwortete Paul ebenso leise, aber ungemein eindringlich. «Wo hat die noch mal gearbeitet?»
«In einem Blumenladen», sagte Kuli.
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In einem Blumenladen
K uli stieg am Mehringdamm von der U6 in die U7 um und wusste eigentlich gar nicht so genau, warum. Das war doch komisch, Paul hatte was von ihrer Chance und ihren fünfzehn Minuten erzählt – und der Einzige, der am heutigen Morgen seine paar Stunden Freizeit vor der Tagschicht mit sinnlosem U-Bahnfahren vergeudete, war er. Wieso gab er eigentlich immer so schnell nach? Paul hatte was von einem dringenden Termin gefaselt, ihm die Adresse von Lisa Gerhards Blumengeschäft, die er im Internet gefunden hatte, als SMS geschickt und ihm viel Glück gewünscht. Und damit hatte er sich aus der Nummer verabschiedet. Und er, Kuli, musste nun Pauls endloses Gerede des gestrigen Abends ausbaden. Na ja, was soll’s, dachte er. War ja nicht so, dass er was anderes vorgehabt hätte. Er hätte wahrscheinlich sehr, sehr lange geschlafen, ein bisschen Musik gehört, ein Marmeladenbrot gegessen und wäre dann zur Arbeit gefahren. Da war es doch nicht schlecht, den Tag mal anders zu beginnen. Und wer weiß, was da noch kam. Oder wen man kennenlernte.
Und während die U-Bahn monoton vor sich hinratterte, erinnerte er sich an ein Telefonat, das er gestern Abend kurz vor dem Schlafengehen mit seinem ältesten Freund Ralf geführt hatte. Sein ältester Freund Ralf hieß eigentlich Thorsten, wollte aber schon seit frühester Kindheit Ralf genannt werden, warum auch immer. Kuli kannte ihn seit der fünften Klasse, und sie hatten einiges zusammen erlebt. Sie waren gemeinsam im Urlaub gewesen, mehrmals, eine Radtour durch Belgien hatten sie zum Beispiel gemacht, bei der Ralf von der sie umgebenden Landschaft nichts mitbekommen hatte, weil er die ganze Zeit auf sein Tachometer gestarrt hatte, in dem Bestreben, exakt 20 Stundenkilometer in der Stunde zu fahren, um zu einer vorher festgelegten Uhrzeit in der nächsten Jugendherberge anzukommen. Ralfs Tag war erst dann gerettet, wenn sein Zeitplan aufgegangen war. Ralf war sehr gut in Mathematik.
Tischtennis hatten sie gespielt, Stunde um Stunde, in dem viel zu engen Hobbykeller von Ralfs Eltern. Sie hatten Ralfs Commodore 64 erforscht und so lange Andrew Spencers International Soccer gespielt, bis Kulis Eltern beinahe eine Vermisstenanzeige aufgegeben hätten.
Irgendwann aber hörte das mit dem Tischtennis auf, Ralf begann Informatik zu studieren und hatte keine Lust mehr, sich sportlich zu betätigen. Kuli ging ganz regulär zum Bund, versuchte sich anschließend als Bassist in einer Punkrock-Band, und weil das so grauenhaft erfolglos verlief, ging er nach einigen Jahren magerer Hoffnungen und regelmäßiger Enttäuschungen erneut zum Bund, um dort die nächsten dreizehn Jahre zu bleiben und auf seine Weise Buße zu tun. Ralf brachte humorlos sein Studium zu Ende. Weil er dafür aber vierundzwanzig Semester gebraucht hatte, war er seitdem offiziell arbeitslos. Er hielt sich mit Netzwerkarbeiten für zwei Kleinstfirmen über Wasser und verbrachte die Zeit ansonsten spielend vor dem Computer. Die Nächte gehörten World Of Warcraft , die Tage bis 16 Uhr dem Bett. Dann gab es Pizza zum Frühstück. Um keine unnötige Zeit zu verlieren oder Kalorien zu verbrennen, hatte Ralf den Computer direkt neben dem Bett aufgebaut und verließ selbiges bisweilen höchstens ein-, zweimal am Tag, je nach Verdauungslage. Seltsamerweise war Ralf dabei spindeldürr geblieben, so als würde sein Körper sich schlichtweg weigern, dieses absurde Spiel mitzuspielen.
Manchmal machte Kuli sich Sorgen um Ralf, wegen seines Lebenswandels, seines Vitaminmangels oder auch, weil er noch nie eine Freundin
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