Schlecht aufgelegt (German Edition)
Verkehrsschilder wären moderne Kunst.
Er betrat den Parkplatz des Netto-Supermarktes. Netto war natürlich einer jener Billig-Discounts, die man in der Regel aufgrund ihrer ausbeuterischen Methoden und der ungesunden Betriebsstruktur ablehnte – und zwar entschieden –, die andererseits aber nicht nur unschlagbar günstig, sondern freundlicherweise auch noch bis zweiundzwanzig Uhr geöffnet waren. Was sollte man da machen?
Viele Autos parkten um diese Zeit allerdings nicht mehr hier, genau genommen nur noch zwei. Dazu hingen die verbeulten Überreste eines Fahrrads im Fahrradständer. Das einst stolze Drahtgestell hatte offensichtlich schon den ein oder anderen dieser typischen, harten Berliner Winter ohne Dach über dem Sattel überstehen müssen. Fahren konnte man damit jedenfalls nicht mehr, und zum Wegräumen fehlte wohl allen in Frage Kommenden die Motivation.
Zahlreiche Einkaufswagen standen diszipliniert in Dreierreihe seitlich des Eingangs. Kuli stellte sich vor die mittlere, holte sein Portemonnaie aus der Jacketttasche und suchte nach Kleingeld. Er besaß nur noch die Rest-Scheine von Martin Schulte und ein paar Zerquetschte, die man getrost vernachlässigen konnte. Immerhin, ein Zwanzig-Cent-Stück fand sich. Die Verkäuferin eines anderen Netto hatte ihm einmal mit verschwörerischem Lächeln verraten, dass die meisten Einkaufswagen mit zwanzig Cent zu knacken waren, was ihn damals sehr beeindruckt hatte. Seitdem machte er sich oftmals einen Spaß daraus, die Wagen egal welchen Supermarkts so lange mit zwanzig Cent zu malträtieren, bis entweder der Wagen aufgab oder die Aufsicht kam. Es war auch schon mal vorgekommen, dass eine freundliche alte Dame ihm einen Euro geschenkt hatte, weil sie das Elend dieses scheinbar mittellosen jungen Mannes nicht länger mit ansehen konnte. Das war ihm peinlich gewesen, aber da er die alte Dame nicht enttäuschen wollte, hatte er den Euro dankend angenommen und im Gegenzug ihre Wocheneinkäufe nach Hause getragen, was eine echte Tortur gewesen war, denn sie wohnte selbstverständlich etliche Straßenzüge entfernt im fünften Stock eines Altbaus ohne Fahrstuhl.
Kuli steckte das Zwanzig-Cent-Stück in das Pfandschloss des Wagens und ruckelte darin herum. Dann hielt er inne. Er spürte es, so wie man es spürte, wenn im Nebenzimmer der Fernseher lief, obwohl der Ton ausgestellt war – hinter ihm stand jemand. Da die anderen beiden Reihen links und rechts unbesetzt waren, war das ziemlich verdächtig. Da stand jemand und atmete schwer in seinen Nacken.
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Sophies Welt
U m Viertel nach neun war sie schließlich da. Sie betrat das Kandinsky und verstaute ihr Handy in einer großen, schwarzen Handtasche, während sie ihren Blick schweifen ließ. Paul stand auf und winkte ihr zu, obwohl er streng genommen ja eigentlich gar nicht wissen konnte, wie sie aussah.
«Streng genommen können Sie eigentlich gar nicht wissen, wie ich aussehe», sagte sie zur Begrüßung und gab ihm die Hand. Paul stellte zu seiner Erleichterung fest, dass er ein paar Zentimeter größer war als sie. «Haben Sie mich gegoogelt?», fragte sie mit einem angriffslustigen Lächeln und zog die Augenbrauen hoch.
«Ich und Sie gegoogelt», sagte Paul. «Quatsch. So was machen ja wohl nur Idioten. Ganz schön eingebildet sind Sie, Frau Müller!»
«Ach ja?»
«Ach ja! Sie sind hier reingekommen, waren allein und sahen arrogant aus. Wer sollten Sie denn also sonst sein?»
«Ganz schön frech. Und ganz schön clever für einen Call-Center-Agenten», sagte Sophie Müller und stieß damit gleich mal einen besonders wunden Punkt bei Paul an.
«Was soll das denn heißen? Warum sollen denn Call-Center-Agenten nicht clever sein?», bockte er, während Sophie Müller ihren sicherlich hochgradig modernen und teuren Herbstmantel auszog und ihn nach einem Blick auf Pauls Schmodder-Jacke ebenfalls über den Stuhl hängte.
«Das stimmt natürlich, Call-Center-Agenten sind Leistungsträger unserer Gesellschaft und haben völlig zu Unrecht ein so schlechtes Image, da bin ich mir sicher», sagte Sophie Müller ruhig, setzte sich entspannt auf ihren Platz und schaute Paul in die Augen. Paul wurde etwas schwindelig. Mann, waren diese Augen grün. Mann, waren diese Augen groß. Mann, waren das entzückende, blonde Löckchen. Mann, sah diese Frau gut aus. Aber nicht auf so eine püppchenhafte, zurechtgemachte Art, sondern einfach so, aus sich heraus. Und tatkräftig war die, das sah man
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