Schlecht aufgelegt (German Edition)
Vorstellung, nach dem Aufwachen als Erstes in Kulis zärtlich grinsendes Gesicht blicken zu müssen. Also war er um 4:15 Uhr aufgestanden, hatte seine Schuhe und seine Jacke genommen und um 4:17 Uhr vor der Tür gestanden, um eine Uhrzeit also, zu der es an welchem Ort dieses Planeten auch immer befremdlich war, gerade aus dem Bett zu kommen, anstatt hineinzugehen. Er hatte den Kragen hochgestellt und sich auf einen langen Spaziergang gemacht, bis hin zur Kastanienallee, auf der auch um diese Uhrzeit noch erstaunlich viele Menschen unterwegs waren: Verliebte, Freunde, Partygänger. Die meisten von ihnen ekelhaft gut gelaunt, wie als ob es um nichts ginge in dieser Welt.
Den schlimmsten Moment, den nämlich, als es langsam hell wurde über den grau schimmernden Dächern Berlins, hatte er in irgendeinem Café verbracht, in dem sich die letzten Nachtschwärmer und frühesten Frühstücker halbwegs aufrecht die Klinke in die Hand gaben. Nachdem er lustlos ein labberiges Croissant verschlungen und ein krümeliges Ei mit blaugrünem Ring ums Gelb hinuntergewürgt hatte, beschloss er, dass sie jetzt aber echt mal lange genug geschlafen hatten, die beiden Turteltauben des Herzens.
Also war er vor das Café getreten, wo er augenblicklich zweimal um Feuer gebeten und einmal als Türsteher missverstanden worden war, hatte Kulis Nummer gewählt und mit der linken Hand einen Typen mit Gitarre beiseite gewedelt, der zufällig vorbeigekommen war und sich angeschickt hatte, ihm zu Ehren ein Lied zu spielen. Und nun hatte er sie doch beide am Apparat, was er nicht gewollt hatte und ihn selbstverständlich wütend machte. Die beiden nutzten jetzt sogar schon die gleiche Telefonleitung, da konnten sie ja gleich zusammenziehen.
«Was machen wir also jetzt? Was ist denn das für eine tolle Idee?», fragte Paul ruppig und hörte plötzlich nur noch undeutliches Gemurmel.
«Komm doch erst mal zu uns zurück», sagte Sophie schließlich.
«Damit ihr mir dann eure Verlobung mitteilt, oder was?», pampte Paul und fand das selbst ziemlich unsouverän.
«Quatsch, Verlobung.» Kuli lachte gelöst und betätigte plötzlich etwas, das so klang wie ein Milchaufschäumer. «Entschuldige, ist gleich vorbei», brüllte er. «Ich mach nur Kaffee.»
«Wieso machst du denn jetzt Kaffee bei … wieso das denn?» Paul war kurz davor, einfach aufzulegen.
«Damit du was zu trinken hast. Wenn du gleich wieder hier bist», erwiderte Kuli ungerührt und schlürfte lautstark einen Milchrest.
«Kannste vergessen», sagte Paul knapp. «Wir treffen uns in einer Stunde in deiner Straße. Wir brauchen das Foto. Jetzt!»
«Ich komme mit», rief Sophie aus dem Hintergrund fröhlich.
«Wieso das denn? Kommst du jetzt gar nicht mehr ohne Kuli aus, oder was?», meckerte Paul und wusste genau, dass das alles völlig falsch war, dass er sie immer weiter wegschob, obwohl er sie doch einfach nur näher heranholen und für sich allein haben wollte. Paul hörte das Trappeln eiliger, nackter Füße auf Holz. Dann klang Sophie plötzlich sehr nah.
«Jetzt pass mal auf, Paul», sagte sie mit geschulter Kälte in der Stimme, die keine Widerworte zuließ. «Ich bin unter Umständen geneigt, dich zu mögen, obwohl du dir echt alle Mühe gibst, den größten Arsch unter der Sonne zu spielen. Gestern Abend war das alles ja noch recht lustig, weil es ein Spiel war und nur so halb ernst, aber jetzt gehst du mir auf die Nerven. Du hast mir die ganze Geschichte mit Henning Bürger erzählt, und ich finde das spannend und wichtig, und ich verstehe auch, dass man verbittert ist, wenn das Einzige, was man wirklich liebt, über tausendfünfhundert Kilometer weit weg ist. Das gibt dir aber nicht das Recht, mich und Kuli, der dich aus irgendeinem Grund auch mag, permanent wie die letzten Menschen zu behandeln. Und erspare uns vor allem dein ewiges Selbstmitleid, das ist nämlich ganz und gar unsexy. Haben wir uns verstanden?»
«Ja», sagte Paul kleinlaut und erinnerte sich an Frau Körner aus der Nachbarschaft, deren Kellerscheibe er versehentlich mit einem seinerzeit wertvollen Original-WM-Fußball namens Tango eingeschossen hatte und bei der er auf Drängen seines Vaters zum Rapport erscheinen musste. Sie hatte sich mit weit aufgerissenem Mund voller sehr, sehr verdorbener Zähne über ihn gebeugt und ihn sehr, sehr, sehr laut beschimpft und den Ball einkassiert. Damals war er sieben Jahre alt gewesen und hatte sich genauso winzig und beschämt gefühlt wie jetzt.
«Ich komme
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