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Schlechte Gesellschaft

Titel: Schlechte Gesellschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Born
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Nachmittag Jahre später im selben Waggon entdeckt hatte, in dem sie selbst nach Frankfurt unterwegs war. Gellmann hatte während der Fahrt in verschiedenen Büchern mehr geblättert als gelesen. Hella sprach ihn nicht an. Sie genoss es, ihn zu beobachten.
    Neben den Schließfächern bei der Bahnhofgaststätte blieb sie stehen. An einer der Werbesäulen lehnte ein Mann, der das Gesicht seiner Freundin mit beiden Händen festhielt und auf sie einredete. In den kurzen Pausen seines Sprechens küsste er sie. Die Fürsorglichkeit der Geste bewegte Hella, und fast schämte sie sich dieser Rührung, als müsse die Sehnsucht nach einer solchen Zärtlichkeit weit hinter ihr liegen.
    Gellmann sollte längst aufgeholt haben, auch wenn er sich noch eine Zeitschrift gekauft hatte. Auf der Höhe des Feinkostladens spürte Hella plötzlich einen heftigen Schlag auf den Arm. Sie sah sich nach Gellmann um, als sie ein zweiter, unmissverständlich aggressiver Stoß gegen den Rücken fast aus dem Gleichgewicht brachte. Sie taumelte, fing sich aber wieder. Ein Mann in einem befleckten Blaumann stand vor ihr und sah sie stumm an. Erst jetzt verstand sie, dass Gellmann nichts damit zu tun hatte. Der Mann hatte sie – vielleicht unabsichtlich – angerempelt. Er entschuldigte sich aber nicht, sondern sah Hella, die sich vorsichtig über den schmerzenden Arm rieb, stumm an. Sein Gesicht war wie verwaschen von Alkohol und unterdrückter Wut.
    Hella glaubte, Gellmann müsse nun ganz in der Nähe sein. Er würde eingreifen und sie von dem Kerl befreien. Vielleicht würde er sich mit ihm schlagen. Dann würde er so etwas rufen wie: »Was machst du bloß für Sachen, Hella?« Er würde sie umarmen und sagen, »Jetzt gehen wir erst einmal etwas trinken auf den Schreck«.
    Aber Gellmann kam nicht, hatte den Bahnhof womöglich längst verlassen. Vielleicht war er sogar absichtlich an ihr vorbeigegangen.
Wenn einer geht, bleibt ein anderer zurück
(letzte Kriegsjahre 1917–1918)
    Im Frühjahr des dritten Kriegsjahres waren im Gasthaus Brink anstelle der Pensionäre und Wanderfreunde aus der Stadt nur noch Kriegszitterer und Invaliden zur Erholung untergebracht. Mit ihren zerschossenen Gesichtern, ihren nur vorläufig gestützten Amputationen, ihren Grabenfüßen saßen sie stumm in ihre Decken gewickelt auf der Sonnenterrasse. Und auf die Frauen von Sehlscheid, die am Morgen im fahlen Februarlicht von der Feldwache zurückkehrten, wirkte ihr Anblick wie eine hämische Klage.
    In den Städten, hieß es, seien die Menschen schon im Kohlrübenwinter von 1916 zu Tausenden verhungert. Darauf folgte im Spätsommer die misslungene Getreideernte. Selbst auf den größeren Höfen im Westerwald wurden die Vorräte knapp. Jede Nacht verjagten die mit schweren Forken bewaffneten Bäuerinnen die Plünderer aus dem Unterdorf und vom Birnbaumstück. Manchmal mussten sie ihnen bis hinunter zur Unteren Mühle folgen. Längst schreckten die Banden und Landstreicher nicht mehr davor zurück, auch brütende Hennen oder unreifes Obst zu stehlen.
    Kaum einer sprach mehr von der Verteidigung des Vaterlandes. Der Hunger, die willkürliche Rationierung, die von der Kriegswirtschaft an der Feldarbeit gehinderten Männer, die Verletzten, Verstümmeltenund nie aus dem Krieg Zurückgekehrten bestimmten die Gespräche. Hilda Gehrke hatte einen Sohn verloren, die Brinks und Lindes sogar zwei. Allein in Sehlscheid zählte man inzwischen über ein Dutzend Kriegsopfer, die Versehrten und auf immer Entstellten nicht mitgezählt.
    Nachdem Rudolf sich wieder an die Front gemeldet hatte, war Kläre Vahlens Haar innerhalb weniger Wochen ergraut. Die alte Irma Vahlen sprach wochenlang kein Wort mehr. Und auch Martha sah man nur noch betrübt herumgehen. Wenn jemand fragte, was mit ihr sei, rief sie entrüstet, ob denn außer ihr niemand an Rudolf dachte, der an der Front um sein Leben kämpfte.
    Hermann Vahlen ahnte, warum der Bruder freiwillig, überstürzt und ohne weitere Worte fortgegangen war. Er hätte auch wütend darüber werden wollen, aber in seinem Inneren spürte er nur Leere. Und an manchen Tagen kämpfte er wegen Marthas heftiger, ihn gänzlich ausschließender Sehnsucht nach dem abwesenden Bruder mit einer muffigen Eifersucht, derer er sich schämte.
    Erst im April wurde bekannt, dass Rudolf

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