Schlechte Medizin: Ein Wutbuch (German Edition)
würde sich um mich kümmern. «
» Und wer käme dafür auf? «
» Ich … könnte das selbst bezahlen. «
» Und wenn Sie mittellos wären? Soll die Gemeinschaft Sie verenden lassen? «
Mia schweigt.
» Wenn wir vernünftig denken « , sagt Sophie, » schuldet die Gemeinschaft Ihnen Fürsorge in der Not. Dann aber schulden Sie der Gemeinschaft das Bemühen, diese Not zu vermeiden. Ist das nachvollziehbar? « … » Es besteht eine enge Verbindung zwischen dem persönlichen und dem allgemeinen Wohl, die in solchen Fällen keinen Raum für Privatangelegenheiten lässt. «
Diese Szene stammt aus dem Roman Corpus Delicti – Ein Prozess von Juli Zeh. Sie schildert einen Gerichtsprozess, in dem eine Frau (Mia) einer Richterin (Sophie) vorgeführt wird, weil sie gegen mehrere Gesundheitsgesetze verstoßen hat. Bei der Frau wurden erhöhte Blutwerte für Nikotin und Kaffee festgestellt. Ein eingepflanzter Chip im Oberarm verrät die nicht eingehaltenen Bewegungsvorgaben. Ihre häuslichen Blutdruckmessungen und Urintests hat sie vernachlässigt, und derVerpflichtung, regelmäßig Ernährungs- und Schlafprotokolle vorzulegen, ist sie ebenfalls nicht nachgekommen. Corpus Delicti beschreibt das Deutschland der Zukunft, in einer perfekten gesundenWelt. Die Städte sind sauber und klinisch rein. Die Menschen wohnen in umweltoptimierten Häusern, Abwasser, Luft,Temperatur– alles unter Kontrolle und perfekt auf die Bedürfnisse des menschlichen Körpers reguliert. Die METHODE wacht über die Einhaltung der gesundheitsvorsorgendenVorgaben und bestraftVerstöße. Besonders eifrige Bewohner einer Hausgemeinschaft übernehmen solche Kontrollaufgaben selbst und werden dafür mit derWächterhausplakette ausgezeichnet. Alles zumWohl der Gemeinschaft und deshalb auch für den Einzelnen. Alles bestens, und doch verbreitet der Roman eine beklemmende Stimmung, denn diese Perfektion, in der die Menschen an die vom Staat vorgegebenen Normen angepasst werden, geht auf Kosten der individuellen Freiheit.
Auch heute sind Gesundheitsempfehlungen schon omnipräsent. Sie dringen immer tiefer in unsere Lebenswirklichkeit ein, sei es der Privatbereich, der öffentliche Raum von Supermarkt bis Restaurant oder die Arbeit, Schule und sogar der Kindergarten. Sie zielen immer eindringlicher auf unsere Essenswahl, unsere Freizeitgestaltung und das Einkaufsverhalten. Sündigen wir, vergehen wir uns an Gesundheit und Gesellschaft. Dies wird uns in immer drastischeren Bildern vermittelt.
Infolgedessen gibt es immer mehr Menschen, die andere, die in der Öffentlichkeit gesundheitsschädlichesVerhalten zeigen, öffentlich maßregeln.Wenn eine schwangere Frau öffentlich raucht, dann weiß sie, dass ihrVerhalten nicht optimal für ihr Baby ist. Ich finde es auch nicht gut, und wäre sie meine Patientin, würde ich sie in der Sprechstunde darauf ansprechen. Es ist aber dennoch ihr Recht zu rauchen. Genauso wie es ihr Recht ist, einen Sportwagen zu fahren, bergzusteigen, Ski zu fahren, Fußball zu spielen, in einem gefliesten Bad zu duschen oder Holz zu spalten. Auch das sindTätigkeiten, bei denen man sich potenziellen Gesundheitsgefahren aussetzt.Wer dieses Recht anzweifelt, verlässt den Boden einer lebenswerten, freien Gesellschaft. Die Raucherin öffentlich anzupöbeln bis hin zu Handgreiflichkeiten, ist aber heute weitgehend akzeptiert und findet sogar den Beifall der Umstehenden.Wenn diese Frau dann noch eine Cola in der Hand hält und dabei einen Hamburger verzehrt, droht ihr verbale Lynchjustiz. Doch geht es solchen Kämpfern für eine gesunde Gesellschaft wirklich um die Gesundheit des Babys? Oder suchen sie eher nach einem Grund, sich über andere erheben zu können, um sie zu demütigen?
Seit vor etwa 60Jahren infolge der Framingham-Studie ein neuer Gesundheitsbegriff etabliert wurde, lässt sich Gesundheit anhand definierter Normwerte beurteilen. Sie erscheint dadurch jederzeit überprüf- und korrigierbar.Wer dagegen verstößt und diesen künstlichen Normen nicht entspricht, gilt als jemand, der die Abweichung aufgrund seines ungesunden Lebenswandels selbst verschuldet hat.Wer solche Schwäche zeigt, dem wird sehr nachdrücklich nahegelegt, wieder auf den rechtenWeg zurückzufinden, da er sonst mit Sanktionen zu rechnen habe. Und diese beschränken sich nicht mehr nur auf öffentliche Ächtung undVermittlung eines schlechten Gewissens, inzwischen werden für gesundheitsschädigendesVerhalten schon handfeste gesellschaftliche und staatliche
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