Schlechte Medizin: Ein Wutbuch (German Edition)
Jägern und Sammlern wurden Handwerker, Beamte, Unternehmer, Händler und Gelehrte.VieleVerhaltensweisen, die in prähistorischer Zeit bis zur Steinzeit das Überleben und das der eigenen Familie sicherten, machen heute keinen Sinn mehr, schaden sogar der Entwicklung einer zivilisierten Gesellschaft und dem Schutz individueller Rechte. Dennoch sind sie nochTeil unseres genetischen Programms und können so weiterhin unserVerhalten bestimmen.
Wenn Menschen aus eigenem Antrieb heraus teilen und andere Menschen unterstützen, dann macht das aus evolutionärer Sicht durchaus Sinn.Teilt der Jäger seine Beute mit Familien, die weniger Jagdglück hatten, dann steigt die Chance, dass seine eigene Familie auch dann mitversorgt wird, wenn er selbst ohne Beute zurückkehrt. Das menschliche Bedürfnis, Gutes zu tun, erzeugt also eine sinnvolleWin-win-Situation und konnte sich deshalb evolutionär durchsetzen. DerTeilende würde aus diesem Antrieb heraus seinVerhalten auch gar nicht mit Moral schmücken wollen, er handelt einfach. Eine solche Moral ist leise und zurückhaltend.
Doch nicht immer hat scheinbar Gutgemeintes dasWohlergehen aller zur Folge. Denn schließlich musste der Mensch, je erfolgreicher er sich gegenüber anderen Arten durchsetzte, vor allem einen Gegner fürchten: seine Artgenossen. Moral lässt sich nämlich trefflich auch dazu nutzen, von anderen eineVerhaltensweise einzufordern, die lediglich dazu dient, die eigenenVorteile durchzusetzen.
Ein bewährtes Mittel, um mit moralischer Begründung eigeneVorteile durchzusetzen, ist das Einpflanzen von schlechtem Gewissen. Ein Beispiel ist die auch heute noch in allen Kulturen verbreitete Praxis von Eltern, einemihrer Kinder, vorzugsweise einerTochter, schon als Kleinkind einzutrichtern, es sei für dasWohl der Eltern verantwortlich. In vielen Kulturen ist es dann dieses Kind, welches häufig sogar bei den Eltern wohnen bleibt, um sich bis zu ihremTode exklusiv um sie zu kümmern. Manchmal verhindert diese Praxis sogar die eigene Familiengründung dieses » Sklavenkindes « . Da jedoch früher meist zahlreiche Kinder da waren, hatte die kühle, rationale Logik der Evolution, die ja die Gene möglichst erfolgreich verbreiten möchte, damit kein Problem. Die Eltern bekamen eine tatkräftige Unterstützung bei der Erziehung der Kinderschar, und die eigeneVersorgung imAlter wurde dadurch gesichert. Die Eltern sind also die Gewinner dieser Moral. Ein solches Kind hat jedoch keine Chance, es ist derVerlierer. Entweder es widersetzt sich diesem egoistischen Anspruch der Eltern, dann bezahlt es mit einem lebenslangen schlechten Gewissen, oder es gibt dem moralischen Druck auf Kosten des eigenen selbstbestimmten Lebensplans nach. Mit Moral kann man Macht über andere gewinnen, indem man sie manipuliert. Eine so eingesetzte Moral ist laut, fordernd und produziert automatisch immer Gewinner undVerlierer.
Je größer die Gruppen wurden, in denen Menschen lebten und sich gegen andere behaupten mussten, desto stärker entwickelte der Homo sapiens eine identitätstiftende Gruppenmoral. Dabei spielt es keine Rolle, ob sich die Gruppe durch den Glauben, die Herkunft oder auch nur durch die » richtige « Hautfarbe von anderen abgrenzt, dabei zu sein vermittelt stets das Gefühl,Teil der moralisch überlegenen Gruppe zu sein. Das verstärkt die Außenwirkung der Gruppe, und Erfolg in der Evolution definierte sich immer mehr dadurch, solch einer dominanten Gruppe anzugehören. DasWir-Gefühl wurde immer wichtiger. Das gilt ganz besonders für kriegerische Auseinandersetzungen, denn die Ausgrenzung des Gegners aus dem eigenen moralischen Kosmos setzt Skrupel undTötungshemmungen herab.
Um diese Durchsetzungsenergie zu entwickeln, darf das Gruppenmitglied aber nicht an der Grundüberzeugung zweifeln. Nur wenn es sich der eigenen Überlegenheit absolut sicher ist, kann es die anderen als minderwertig wahrnehmen. Aus diesem Grund können die lautesten Moralisten gar nicht anders, als immer wieder Feindbilder zu schüren, denn dies macht die Gruppe stark. Moral wird so zur reinen Gewinnerstrategie.Voland spricht von der Doppelgesichtigkeit, mit der die menschliche Moral untrennbar verbunden ist.
Eine Gruppenmoral erzeugt demnach zwangsläufig eine Doppelmoral, weil sie ohne moralische Herabsetzung des Gegners ihre Durchschlagskraft verliert. Das geht so weit, dass der amerikanische Zoologe GeorgeWilliams etwas drastisch schlussfolgert: » Die Präferenz einer Gruppenmoral … heißt
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