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Schlehenherz

Schlehenherz

Titel: Schlehenherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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jetzt wollten meine Eltern mich ruhigstellen, indem sie einen Psychologen auf mich ansetzten. Das hatten sie sich wirklich schlau ausgedacht.
    Trotz meiner Wut und Enttäuschung spürte ich aber auch Erleichterung: Nämlich, dass ich den Mund gehalten und keinem Erwachsenen etwas über die Sache im Moor erzählt hatte. Sie hielten mich ja jetzt schon für »überreizt« – auf Deutsch: durchgeknallt. Dann noch dieGeschichte von einem Maskierten, der mich durchs Moor jagt – und der Psychologe wäre imstande, mich sofort in die Geschlossene einzuweisen, dessen war ich mir sicher. Er musterte mich mit seinem Saugnapf-Blick wie einen besonders dicken Fisch, den er an der Angel hatte und so schnell nicht mehr vom Haken lassen würde.
    »Elina, meine Aufgabe ist es, jungen Menschen zu helfen«, setzte er salbungsvoll an, doch ich ließ mich nicht einlullen, sondern unterbrach ihn rüde: »Prima, dann fangen Sie am besten gleich damit an – draußen. Ich verzichte nämlich auf Ihre Hilfe. Wiedersehen.«
    Damit drehte ich mich auf dem Absatz um und stürmte aus dem Zimmer, obwohl mir meine Mutter nachrief, ich sollte bleiben. Aber ich dachte nicht daran. Ich knallte meine Zimmertür zu und drehte den Schlüssel um. Zweimal.
    Dann ließ ich mich mit dem Rücken dagegenfallen und rutschte an dem glatten Holz entlang langsam nach unten, bis ich in der Hocke saß. Endstation. Wie in meinem Traum, als ich im Sarg lag. Genauso fühlte ich mich – lebendig begraben. Denn jetzt hatte ich Gewissheit: Meine Eltern, die Polizei, alle hielten mich für durchgeknallt, Verzeihung »überreizt«. Doch das Resultat war dasselbe: Ich konnte niemandem mehr vertrauen. Ab jetzt war ich auf mich allein gestellt.
    Und irgendwo war er und wartete nur auf die nächste Gelegenheit …

8. Kapitel

    Er war allein. Langsam ließ er ihren Schal durch die Finger gleiten. Seine Ausbeute, seine Trophäe aus dem Moor. Auch wenn er sie nicht erwischt hatte. Inzwischen war ihm klar: Er hatte zu unüberlegt gehandelt. Er hatte vor ihrem Haus gestanden und war seiner Beute spontan gefolgt, nachdem sie aus der Gartentür getreten war. Als sie den Weg ins Moor einschlug, hatte er seine Chance gewittert und spontan gehandelt. Sein Fehler. Jetzt musste er sorgfältiger planen, das hatte er begriffen – auch wenn es mehr Zeit kostete und seine Ungeduld wuchs. Aber auch ein Raubtier hatte geduldig zu sein und musste seine Beute erst in Sicherheit wiegen, ehe es zuschlagen konnte. Er drückte ihren Schal an sein Gesicht, vergrub seine Nase in der weichen Wolle und sog gierig den Duft des Mädchens ein.
    Zuvor hatte er sich vergewissert, dass seine Zimmertür verschlossen war. Das erste Mal, als er das gemacht hatte, war er noch unvorsichtig gewesen. Als sein Vater hereinkam und ihn ertappte, wie er gerade am pinkfarbenen Glitzer-T-Shirt eines Mädchens roch, sah er den Schlag nicht kommen. Die Ohrfeige schleuderte ihn durchs halbe Zimmer, und obwohl er die Arme schützend vors Gesicht riss, hatte der Alte ihn damals halb tot geprügelt.
    Was blieb, war eine Narbe über der Augenbraue von dem Regal, gegen das er geprallt war – aber auch der Stolz, nichts verraten zu haben. Selbst als sein Vater mit der Faust zuschlug, hatte er eisern geschwiegen und nicht zugegeben, dass er das T-Shirt – irgendeines, nach dem er in seiner Hast wahllos griff – aus der Mädchen-Umkleide entwendet hatte.
    Seitdem sperrte er ab, ehe er seine Sammlung aus dem Geheimversteck holte: das gepunktete Halstuch der Schülerin auf dem Fahrrad damals im Hohlweg, die kurze Jeansjacke desMädchens mit den langen dunkelroten Haaren unterm Schlehenbaum und nun den Schal der anderen Rothaarigen, die ihm im Moor entkommen war.
    Obwohl er zum ersten Mal eine Niederlage erlitten hatte, war ihr Schal seine kostbarste Trophäe. Die anderen Beutestücke verloren mit der Zeit ihren Duft, sie begannen in der Plastiktüte, die er ganz hinten in seinem Schrank verborgen hielt, fade und muffig zu riechen. An ihrem Schal aber haftete noch ihr Duft, etwas Zartes, Frisches. Er krampfte die Hände um die Wolle und schnupperte. Wenn er die Augen schloss, konnte er sich beinahe vorstellen, wie seine Hände an ihrem Hals lägen, fast spürte er unter seinen Fingern die weiche Haut ihrer Kehle, den schnellen Pulsschlag und die Hitze, wenn er zudrückte …
    Das Schlagen der Haustüre und die schweren Schritte seines Vaters unten in der Diele rissen ihn aus seinen Fantasien. Hastig stopfte er das

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