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Schlehenherz

Schlehenherz

Titel: Schlehenherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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Kleidungsstück zurück zu den anderen Beutesachen in die Tüte und verbarg diese im Schrank. Dann schlich er zur Tür und drehte lautlos den Schlüssel im Schloss. Nun war sein Zimmer offen und niemand würde Verdacht schöpfen. Er machte nie denselben Fehler zweimal.
    Als der Alte den Kopf ins Zimmer steckte, saß er am Computer und tat beschäftigt. Die Rolle des braven Sohnes konnte er inzwischen perfekt spielen. Und nichts anderes war er doch auch: ein gehorsamer Junge, der keinen Ärger machte. Er lachte lautlos, als er dachte: ein Schaf im Wolfspelz.

    * * *

    Seit dem Besuch des Psychologen hatte ich mit meiner Mutter kein Wort geredet. Der war kurz nach meinem demonstrativen Abgang verschwunden. Durchs Fenster sah ich ihn in sein Auto steigen und wegfahren. Trotzdem verbarrikadierte ich mich den ganzen Abend in meinem Zimmer und blockte alle Annäherungsversuche meiner Mutter ab. Ich nahm ihr Verhalten übel und hatte keine Lust, »darüber zu reden«, wie sie vorschlug, als sie an meine verschlossene Zimmertüre klopfte. In Vios Pulli gekuschelt, die Arme um mich geschlungen, blieb ich stumm auf meinem Bett sitzen. Ich spürte, dass meine Mutter noch eine Weile da stand, ehe ich ihre leisen Schritte hörte, die sich entfernten. Ich war mir sicher, dass sie dabei die Schultern hängen ließ – wie immer, wenn sie ratlos oder betrübt war. Heute tat sie mir nicht die Spur leid.
    Ein leises »Bing« meines Computers ertönte und meldete den Eingang einer neuen Mail. Ich hatte ganz vergessen, mich heute Nachmittag bei schülerVZ auszuloggen. Immer noch wütend klickte ich auf »Öffnen« und schwor mir, falls es eine Schräge-Humor-Mail von Grover wäre, würde ich ihm ein für alle Mal klarmachen, dass er mich gefälligst in Ruhe lassen sollte.

    Von: [email protected]
    An: [email protected]
    Betreff: …

    Nun stirbt das Laub der Bäume wieder
    Und aller Vögel weiche Lieder
    In jedem einzigen späten Blatt.
    Es duftet noch des Nadelwalds Gefieder
    Die Sonne küsste seine Farben satt
    Bald aber schneien kalte Wintersterne nieder.

    Ich las die Mail dreimal durch. Keine Unterschrift, kein Anschreiben – nur die paar Gedichtzeilen. Da machte einernicht viele Worte. Versuchte nicht, sich mit irgendwelchen Pseudowitzen wichtigzumachen oder lustig rüberzukommen. Gefiel mir irgendwie. Ich suchte nach seinem Profil. Kein Foto, dort stand nur, dass er siebzehn war und auf die Gesamtschule in der fünfzehn Kilometer entfernten Kleinstadt ging. Zum ersten Mal, seit ich mich bei schülerVZ angemeldet hatte, kriegte ich Lust, auf eine Mail zu antworten. Doch was sollte ich »Blauer Reiter« zurückschreiben? Auch ein Gedicht? Ich gab die ersten Zeilen der Mail in die Suchmaschine ein und erfuhr, dass eine gewisse Else Lasker-Schüler die Verfasserin war. Ich surfte noch etwas im Netz und stieß auf weitere Verse der Dichterin. Ein Gedicht faszinierte mich – zumindest der Anfang. Ob »Blauer Reiter« es kannte? Einen Versuch war es zumindest wert.

    Von: [email protected]
    An: [email protected]
    Betreff: AW: mein blaues Klavier

    Ich habe zu Hause ein blaues Klavier
    Und kenne doch keine Note.
    Es steht im Dunkel der Kellertür,
    es spielten Sternenhände Vier
    Die Mondfrau sang im Boote.

    Ich drückte den Button »Senden« und merkte, dass ich lächelte. »Blauer Reiter« hatte es geschafft, dass ich zum ersten Mal gespannt auf eine Antwort wartete.

    Von: [email protected]
    An: [email protected]
    Betreff: AW: fehlende Zeilen

    Hallo Schlehenherz,
    das Gedicht geht aber noch weiter:
    Nun tanzten die Ratten im Geklirr
    Zerbrochen ist die Klaviatur
    Ich beweine die blaue Tote.
    Ach liebe Engel öffnet mir
    – Ich aß vom bitteren Brote –
    Mir lebend schon die Himmelstür,
    Auch wider dem Verbote.

    Warum nicht das ganze Gedicht? Magst du das Ende nicht?
    Blauer Reiter

    Ich saß vor meinem Rechner und starrte auf die Mail von »Blauer Reiter«. Er hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Denn genau bis zu jenen Zeilen, die er in seiner Mail anfügte, hatte ich das Gedicht von Else Lasker-Schüler wunderbar gefunden: ein blaues Klavier, Sternenhände, die auf den Tasten spielen, eine Mondfrau, die in einem Boot singt … Doch dann wurden die Verse düster und schwer. Ich hatte »Blauer Reiter« diesen Teil des Gedichts nicht mailen wollen, denn schon beim Lesen der Zeilen war es mir vorgekommen, als zöge mich die Mondfrau ins schwarze Wasser, hinunter

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