ist ja wohl eine Unverschämtheit, mir so was zu unterstellen!«
Auf einmal war mir alles zu viel. Ich konnte kein einziges Wort mehr ertragen. Die Hände auf die Ohren gepresst, rief ich: »Hör auf! Lass mich! Geh weg! Bitte, geh raus und lass mich einfach in Ruhe, okay?!«
Meine Mutter stand noch zwei Sekunden unschlüssig in der Tür, aber ich gönnte ihr keinen Blick mehr. Erst als ich hörte, wie sie die Tür schloss, entspannte ich mich.
Aufatmend lehnte ich mich in meinem Schreibtischstuhl zurück und schloss die Augen. Ich wollte nichts mehr sehen und hören, nicht mehr mit meiner Mutter diskutieren, sondern am liebsten ganz in die virtuelle Welt eintauchen, wo es nur mich, die Gedichte von Else Lasker-Schüler und »Blauer Reiter« gab …
Ich wollte ihm sofort schreiben. Eifrig setzte ich mich aufrecht hin und fing an zu tippen. Seltsamerweise blieb jedoch der Bildschirm dunkel. Ich aktivierte die »Escape«-Taste, doch nichts tat sich, es herrschte gleichbleibende Schwärze. Jetzt hämmerte ich auf die Maus ein und hatte schon Angst, die Kiste wäre mir abgestürzt, als der Bildschirm plötzlich heller wurde. Ich atmete auf und erwartete, dass gleich mein schülerVZ-Account angezeigt würde.
Stattdessen war da plötzlich eine Seite mit Vios Profil.Kein Zweifel, da stand ihr Name und es gab auch ein Foto von ihr.
Doch darauf sahen ihre langen, dunkelroten Haare strähnig und zerzaust aus. Kleine Äste und Erdkrumen hatten sich darin verfangen. Und ihr Gesicht … es war Vios Gesicht – die vollen Lippen und die leicht schrägstehenden Augen – aber ihre Haut war fahlweiß und hatte einen grünlichen Schimmer. Wie ein Marmorgrabstein, dachte ich erschrocken, ehe ich begriff: Vio war tatsächlich schon tot, als das Foto gemacht wurde. Was ich sah war eine Tote!
Ich zuckte zurück, als hätte mich eine Giftschlange gebissen. Trotzdem konnte ich meinen Blick nicht von ihrem Bild abwenden, es war wie ein Zwang.
In diesem Moment öffnete Vio den Mund und heraus krabbelte ein Insekt: Es war ein Skarabäus – ein ägyptischer Totenkäfer, wie man ihn den Mumien ins Grab mitgab …
Noch halb im Schlaf fuhr ich vom Schreibtisch hoch und stieß dabei den Holzbecher mit meinen Stiften um. Es klapperte laut und sogar der Computer schwankte bedrohlich. Einen Augenblick wusste ich nicht, ob ich mir alles nur eingebildet hatte, oder ob mir Vio tatsächlich erschienen war. Erst nachdem ich zwei Schritte zurückgewichen war und auf meinem Bildschirm die bunten Fische harmlos hin und her schwimmen sah, wusste ich, ein Albtraum. Schon wieder.
Ob Vio mir damit etwas mitteilen wollte? Vielleicht glaubte sie dort in ihrer Totenwelt, ich hätte sie abgeschrieben und durch »Blauer Reiter« ersetzt, dachte ich verzagt. Wie gerne hätte ich ihr versichert, dass sie sich keine Sorgen machen musste, dass niemand sie je ersetzen konnte –aber so sehr ich im Geiste auch nach ihr rief, ich konnte sie nicht spüren. Vio hatte sich von mir abgewandt.
Von:
[email protected] An:
[email protected] Betreff: die geister der toten
Hi Blauer Reiter,
hast du eigentlich manchmal das Gefühl, dein bester Kumpel ist irgendwie noch »da«, obwohl er tot ist? Klingt verrückt, ich weiß, aber gerade anfangs hab ich gedacht, ich könnte meine Freundin noch spüren, einen »Geisterhauch« oder so was. Das ist allerdings schon lange nicht mehr passiert. Vielleicht bilde ich mir ja auch alles nur ein. Du bist der Einzige, mit dem ich über so was sprechen kann. Oder findest du auch, ich spinne? Vielleicht rede ich mir das ja nur ein, weil ich sie so schrecklich vermisse. Geht’s dir ähnlich?
Schlehenherz
* * *
Er las die Mail und grinste. Nein, er vermisste niemanden. Dieser Kumpel, der angeblich auf so tragische Weise bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen war, existierte schließlich nicht. Er war eine Erfindung, die er durchs World Wide Web schickte, um seine Beute zu blenden, sie in Sicherheit zu wiegen. Die Mitleidstour zog immer. Genau wie die Gedichte. Er verzog angewidert das Gesicht, als sein Blick auf das schmale Buch von Lasker-Schüler fiel. Diese Verrückte und ihre Vorliebe für den Künstlerverein »Blauer Reiter«!
Seine Mutter hatte allerdings oft in dem Gedichtband geschmökert. Einiges war mit Bleistift angestrichen, zwischen den Seiten lagen Zettel mit Verszeilen oder Notizen in ihrer Hand schrift. »Wir Menschen halten doch immer nur die Fäden in den Händen, das Schicksal aber