Schlehenherz
webt, wie es will«, hatte sie zum Beispiel geschrieben. Damals. Kurz danach war sie fortgegangen, nur das Buch war ihm geblieben. Vielleicht war es Absicht, vielleicht hatte sie es aber auch vergessen, als sie Hals über Kopf ihre Sachen packte und ihn und seinen Vater von heute auf morgen sitzen ließ.
»Ich halte es einfach nicht mehr aus.«
Das waren ihre Worte gewesen, ehe sie die Haustür hinter sich zuschlug und nie wieder zurückkam. Er war vierzehn damals.
An diesem Abend hatte er seine Zimmertür versperrt und den Stuhl unter die Klinke geschoben, denn sein Vater hatte getobt wie ein Wahnsinniger.
Am nächsten Morgen fand er den Alten schnarchend zwischen umgeworfenen Möbeln, zerschlagenem Geschirr und einer leeren Schnapsflasche. Angewidert war er einfach über ihn drübergestiegen, zur Tür gegangen und erst am Abend wieder nach Hause gekommen. Doch er wurde nicht geschlagen. Diesmal nicht.
»Wir Männer müssen jetzt zusammenhalten, mein Junge«, hatte der Alte gesagt, und er konnte seinen alkoholschweren Arm riechen. »Alle Weiber sind Schlampen, lass dich bloß mit keiner ein«, lallte sein Vater.
Doch das wusste er schon. Seine Mutter hatte immer nur Theater gespielt – so getan als ob. Verdruckst war sie durchs Haus gehuscht und hatte dem Alten Bier und Pantoffeln nachgetragen. Und dann auf einmal war sie weg.
An ihn dachte sie nicht. Obwohl er sie verachtete, wäre er gerne mitgekommen. Nur weg von hier. Aber das war für sie nie infrage gekommen, das wurde ihm schnell klar. Sie hatte ihr neues Leben schön ohne ihn geplant.
Schlampe. Hexe. Falsche Schlange, so wie sie alle waren.Dachten immer, sie wären was Besseres. Trugen kurze Röcke, lange Haare, kicherten und paradierten an ihm vorbei. Aber ihre Blicke trafen ihn immer nur kurz, dann wandten sie sich ab, hatten ihn schon wieder vergessen.
Aber sie würden büßen. Eine nach der anderen. Und bald war es wieder so weit. Er gratulierte sich selbst zu der Idee, sich »Blauer Reiter« zu nennen. Auch wenn er dieses ganze Künstlerpack hasste. Weil sie mit ihren Gedichten und Gemälden etwas konnten, zu dem er nie Zugang finden würde. Und weil sie dafür geliebt und bewundert wurden. Während er nur abschreiben konnte.
Seine Hände umklammerten hart das Gedichtbändchen. Er bog die Buchdeckel so weit nach außen, als wolle er es in der Mitte auseinanderbrechen. Doch dann ließ er los und entspannte sich: Er brauchte die Gedichte noch, auch wenn es nicht mehr lange dauern würde. Die Beute war schon fast so weit: Von seinen Zeilen betört wie eine Biene vom Duft der Blume. Sein Mund öffnete sich in einem lautlosen Gelächter, als er sich eine fleischfressende Pflanze vorstellte, deren Blätter sich erbarmungslos über dem ahnungslosen Insekt schlossen. Genauso würde sie ihm bald in die Falle gehen. Sehr bald.
* * *
Als ich morgens mit Nessie im Schlepptau in der Schule auftauchte, hing am schwarzen Brett gleich mal die gute Nachricht, dass die restliche Woche Englisch ausfallen würde. Die allgemeine Erkältungswelle hatte ein neues Opfer gefunden. Mir fiel Grovers Mail und seine Warnung vor einer Stegreifarbeit ein. Durch den kranken Lehrer war unser Kurs wohl vorerst aus dem Schneider.
Wir hatten uns gerade zum Kaffeeautomaten verzogen,um mit der dünnen Brühe auf unsere Freistunde anzustoßen, als ich hinter mir eine bekannte Stimme hörte. »Ihr seid neuerdings ja wie siamesische Zwillinge. Muss man euch eigentlich für die verschiedenen Kurse operativ trennen?«
Ich drehte mich um. Grover. Offenbar war er wieder gesund und konnte schon wieder Witzchen machen. Ich ertappte mich dabei, dass ich ihm spontan eine kleine Stimmbandentzündung wünschte. Nichts Schlimmes, nur mal zwei Tage Zwangs-Klappehalten.
Nessie nahm seinen Spruch locker und lachte, mir aber war nicht nach Scherzen zumute. Ich wäre auch lieber wieder ohne Todesängste aus dem Haus und zur Schule gegangen. Jeden Morgen Panik, Nessie hätte die Grippe erwischt. Jeden Nachmittag Herzklopfen, sie könnte die Lust verloren haben, Begleitservice für mich zu spielen.
Ich wollte nicht daran denken, wie lange das noch so gehen sollte, und Grovers Geplänkel ließ meine Gedanken düster und schwer werden wie eine dunkle Wolke, die auf mich herabsank. Ich nahm ihm seine gute Laune übel und deshalb rutschte mir »zufällig« mein Kaffeebecher aus der Hand.
Was für ein Pech, dass er genau auf seinen linken Chuck fiel. Der war nun nicht mehr grau, sondern braun.
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