Schleich di!: ...oder Wie ich lernte, die Bayern zu lieben
verliert
München ist während des Oktoberfestes eine andere Stadt. Ich stand am Samstag, dem ersten Wiesntag, wie gewohnt auf, um mich zum Bäcker zu schleppen und Semmeln zu besorgen, während Francesca Kaffee kochte. Alles schien wie immer. Ich war müde. Meine Haare sahen aus, als hätte ich die Nacht über in einem Sturm gestanden, an den ich mich jedoch beim besten Willen nicht erinnern konnte. Doch schon beim Bäcker merkte ich, dass keineswegs alles wie immer war. Die Verkäuferinnen trugen Dirndl. Und waren noch besser gelaunt als sonst. Auf dem Heimweg begegneten mir bereits junge Frauen und Männer, die eiligen Schrittes und mit einem strahlenden Lächeln zur S-Bahn liefen. Auch sie trugen Tracht. Es war kurz vor acht Uhr. Wenn ich es richtig in Erinnerung hatte, machten die Bierzelte erst in einer Stunde auf. Bis zur Theresienwiese, dem Festplatz, brauchte man vielleicht zwanzig Minuten. Da schienen aber einige das Gelage nicht mehr erwarten zu können. Gegen Mittag konnte man auch schon die ersten Heimkehrer sichten, die sich ganz ohne Elan im Schritt und Euphorie im Gesicht erschöpft und schwankend nach Hause schleppten.
Der Krankenstand ist in München während des Oktoberfestes hoch. Doch so richtig stört sich daran niemand. Im Gegenteil, die vom Kater Gepeinigten erhalten von den Kollegen am Telefon viel Zuspruch und die Versicherung, dass es sicher bald besser werden würde. Und das wird es dann ja meist auch. Trotz der abenteuerlichen Hausmittel, die an den Lädierten gern ungefragt weitergegeben werden.
»Probier’s mal mit Bratheringen. Und schön den Sud aus dem Glas mittrinken.«
»Einfach eine Aspirin einwerfen. Und wenn’s wieder nauskommt, glei die nächste.«
»Da gibt’s nur eins, was wirklich nützt: Gewürznelken kauen!«
Alles Dinge, von denen mir nur noch schlechter werden würde. Die Nachsicht mit den abgestürzten Kollegen lässt sich wohl vor allem damit erklären, dass so ziemlich jeder schon einmal selbst auf der Wiesn nicht rechtzeitig auf die Bremse getreten hatte. Mit den bekannten Folgen. Am Mittwoch der ersten Oktoberfestwoche war unser Firmenbesuch auf der Wiesn terminiert. Ich hatte mir fest vorgenommen, keinesfalls über die Stränge zu schlagen. Zumal ja am Wochenende auch die Freunde von Max bei uns eintreffen sollten. Das allein würde schon anstrengend genug sein.
Am Mittwoch war der Verlag wie verwandelt. Es wimmelte von Männern in Lederhosen und Frauen im Dirndl. Sogar die Chefetage hatte sich für den Ausflug auf die Wiesn in Schale geworfen, dabei allerdings auf Lodenjanker statt auf die Krachlederne gesetzt. Ich konnte weder bei dem einen noch dem anderen mithalten. Doch außer einem kurzen »Da kann man halt nix machen«-Blick von Peter musste ich mir weder dumme Sprüche noch Spott gefallen lassen. Im Gegenteil, niemand wollte sich die Vorfreude auf den Abend verderben lassen. Schon gar nicht von einem Saupreiß in Jeans.
Für uns waren Boxen im Augustinerzelt gemietet. Als wir gegen achtzehn Uhr ins Zelt kamen, war ich wie erschlagen. Am Zelteingang merkte man es noch nicht richtig. Doch mit jedem Meter weiter hinein wurde die Luft dicker und der Lärm zu einem Tosen, als würde man in einem Boot eine stürmische See befahren. Hinzu kam die Musik der Blaskapelle, die in der Mitte des Zeltes auf einer Empore thronte. Während es in den Boxen am Rand beinahe ruhig und gesittet zuging, kochte die Stimmung in der Zeltmitte. Man konnte den Menschen, die auf den Tischen tanzten, sangen oder sich einfach nur miteinander unterhielten, einen Rausch ansehen, der nicht nur vom Alkohol kam. Überall gab es etwas zu gucken und zu entdecken. Das Zelt war ein einziges Wogen, überall Bewegung. Bedienungen brachten Nachschub an Bier oder Hendl, wie die Grillhähnchen in Bayern heißen. Verkäuferinnen mit einem großen Weidenkorb im Arm brachten Riesenbrezn an den Mann. Immer wieder durchkämmten Neuankömmlinge systematisch die Tischreihen, um einen freien Platz zu finden. Für andere war das Wiesnabenteuer bereits beendet. Oder es sollte nach einem kurzen Wasserlassen auf der Toilette noch ein bisschen weitergehen. Ich mochte meinen Blick von dem gigantischen Schauspiel nicht abwenden. Ein klassischer Fall von Reizüberflutung mit anschließender Paralyse.
»Keine Angst, da gehen mir schon auch noch hie.« Wiesn-profi Max packte mich am Arm und zog mich zu den Plätzen in unserer Box. »Ich weiß gar nicht, ob ich dahin will. Ich glaub, zuschauen reicht mir
Weitere Kostenlose Bücher