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Schleichendes Gift

Schleichendes Gift

Titel: Schleichendes Gift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Val McDermid
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schöne Bindie Blyth?«
    »Ich sehe, was du mit dem Surfen auf Klatschseiten meinst. Du hast absolut recht. Und bevor ich losfahren kann, muss ich noch ein paar Mann auftreiben, die so viel Material von der Videoüberwachung aus der Stadtmitte sammeln, wie sie in die Finger kriegen können. Und dann müssen die armen Kerle sich alles ansehen.«
    »Lieber die als ich. Wie ist die Überwachung in der Umgebung des Amatis?«
    Carol rollte mit den Augen. »Alles zwischen zu viel und gar nichts. Vorn wird der Club so gut erfasst wie die Wege zu den nächsten Parkhäusern. Aber es gibt einen Seiteneingang in der Nähe des VIP-Bereichs. Er geht auf eine Gasse neben dem Gebäude hinaus. Von dort aus kommt man in das Gewirr der kleinen Straßen von Temple Fields. Und trotz größter Anstrengungen konnten wir kaum etwas finden, denn dort werden noch viel zu viele Bereiche überhaupt nicht überwacht.« Ein kurzes Schweigen trat ein, während sich beide an frühere Fälle erinnerten, die sich in der Umgebung von Temple Fields zugetragen hatten. Temple Fields war eine Gegend, in der sich das Rotlichtviertel und das Schwulenquartier sowie schicke neue Appartements in umgebauten Lagerhäusern und eine Gruppe kleiner Firmen befanden. Temple Fields war der Punkt, wo Cooles auf Schrottiges und hip auf geschäftstüchtig traf für Bewohner, die aus dem breiten Spektrum von Kriminellen bis zu rechtschaffenen Bürgern stammten.
    »Es ist trotzdem der einzige Stadtteil, in dem sich etwas tut«, meinte Tony mit fast träumerischer Stimme. »Gutes und Böses.«
    Carol grinste höhnisch. »Das mit dem Guten muss ich dir wohl unbesehen glauben.«
    »Wir sehen ja immer nur das Schlimmste. Ich habe den Verdacht, dass es dort auch gute Magie gibt.«
    »Erzähl das mal Paula.« Carol klang bitter, denn sie dachte daran, wie Paula in einem schäbigen Zimmer in Temple Fields fast ums Leben gekommen wäre.
    Tony lächelte. »Carol, Paula ist mit der Überschreitung von Regeln viel vertrauter als du. Sie kennt die dunkle Seite von Temple Fields. Lange war es der einzige Ort, an dem Leute wie sie in Sicherheit waren. In Temple Fields gab es Homosexuelle, lange bevor das Schwulenviertel schick wurde.«
    Es war nur eine sanfte Rüge, aber sie erinnerte Carol daran, dass sie ihre eigenen Reaktionen nicht mit denen Paulas gleichsetzen und eine Übereinstimmung erwarten konnte. »Du hast recht«, gab sie zu. Bevor sie mehr sagen konnte, klopfte eine Schwester an und kam herein.
    »Was kann ich für Sie tun?«, fragte sie.
    »Er braucht Schmerztabletten, gibt es aber nicht zu«, erklärte Carol, stand auf und nahm ihre Sachen.
    »Stimmt das?«
    Tony nickte. »Ich glaube schon.«
    Die Schwester sah auf sein Krankenblatt und meinte: »Ich habe Ihnen doch gesagt, wir verteilen hier keine Orden für Märtyrer. Ich bringe Ihnen etwas.«
    Carol folgte ihr zur Tür. »Ich weiß nicht genau, wann ich aus London zurück bin, werde aber morgen versuchen vorbeizukommen.«
    »Viel Erfolg«, wünschte Tony. Er war nicht traurig, dass sie ging. Ihr Besuch hatte ihm vor Augen geführt, wie wenig Kraft er hatte, und er war erleichtert, dass er an diesem Abend keine weiteren Besucher mehr erwartete. Es hatte durchaus seine Vorteile, wenn man sich die Welt vom Leib halten konnte.
    Lange hatte er den Freundschaften misstraut, die ihm angeboten wurden. Er hatte geglaubt, sie beruhten auf dem Irrtum, dass die äußere Person, die er der Welt zeigte, etwas mit dem zu tun hätte, was in seinem Inneren vor sich ging. Er wusste, wie schmal der Grat zwischen beiden war, und dass er durch seine eigene Geschichte den Gejagten näher war als denen, für die er auf die Jagd ging. Er kannte das Ausmaß des Schadens, den er genommen hatte, und verstand, dass er für diese Einfühlungsgabe in gewisser Weise bezahlen musste. Bis er den Mut aufgebracht hatte, seiner Mutter die Schuld zu geben, hatte er schon genug Wissen erworben, um diesen Ausweg als zu billig zu begreifen. Er hatte sich jahrelang wie ein Kind gefühlt, das sich die Nase an der Fensterscheibe platt drückt, hinter der eine glückliche Familie das perfekte traditionelle Weihnachtsfest feiert. Er hatte lange gebraucht, zu verstehen, dass die meisten dieser anscheinend glücklichen Familien genauso viel Dunkles zu verbergen hatten wie seine eigene. Und dass er nicht der Einzige war, der »sich als normaler Mensch ausgab«, wie er es nannte. Aber zu der Zeit hatte er sich schon ein Leben aufgebaut, in dem freiwillige Einsamkeit

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