Schleichendes Gift
Anlass zur Beunruhigung, denn so was hatte man doch früher schon mal gesehen.
Carol wies Sam an einen Tisch in der hinteren Ecke und kam mit einem großen Wodka Tonic für sich selbst und einem Mineralwasser für Sam nach. Er betrachtete es angewidert. »Sie müssen ja fahren«, meinte sie.
»Na und? Ich könnte trotzdem ein Radler trinken«, beklagte sich Sam.
»Das haben Sie nicht verdient.« Carol nahm einen Schluck und sah ihn scharf an. »Während der Fahrt hierher hatte ich Zeit nachzudenken. Sie treiben doch wieder Ihr altes Spielchen, oder?«
Sein Blick gekränkter Unschuld wirkte so echt, dass sie ihn fast verschont hätte. »Was meinen Sie damit?«
»Sie haben das nicht erst heute früh ausgegraben. Dafür haben Sie zu schnell zu viel gefunden. Als Sie Robbies Wohnung durchsucht haben, haben Sie schon mal heimlich reingeschaut, stimmt’s?«
Es war nur eine Vermutung, aber dass er zur Seite blickte, bestätigte ihr, dass sie recht hatte.
»Spielt das eine Rolle?«, versetzte er so pampig, wie es bei seiner Chefin möglich war, aber eigentlich nicht sehr streitlustig. »Ich habe nicht versucht, es für mich zu behalten. Ich habe Sie informiert, sobald es etwas gab, dem man nachgehen konnte.«
»Na gut. Aber warum haben Sie gewartet? Warum behalten Sie so etwas überhaupt für sich? Als einzigen Grund dafür kann ich mir nur denken, dass Sie mehr wollten als die Anerkennung für das Entdecken einer Spur. Sie wollten zugleich Stacey bloßstellen. Denn dies gehört zu ihrem Teil der Ermittlungen. Sie hat also versagt. Geht es darum?« Carol sprach so leise, dass er sich vorbeugen musste, um sie zu verstehen. Sie glaubte, seine kaffeebraune Haut erröten zu sehen, was allerdings auch von der Wärme im Pub kommen konnte.
Sam wandte den Blick ab, anscheinend fasziniert vom gepiercten Nabel einer Frau am Nebentisch. »Ich wusste, dass sie zu viel zu tun hatte, und wollte sichergehen, dass sie nichts übersah.«
»Das ist Blödsinn, Sam. Wir haben Ermittlungen mit einem Anteil IT-Arbeit gehabt, der fünfmal so umfangreich war wie bei diesen hier, und Stacey ist damit zurechtgekommen. Stacey hätte es gefunden. Vielleicht einen oder zwei Tage später als Sie, aber sie hätte es gefunden. Sie wollten auf Staceys Kosten den Helden spielen. Wir haben dieses Thema schon öfter besprochen.« Carol schüttelte den Kopf. »Ich will Sie nicht verlieren, Sam. Sie sind clever und arbeiten hart. Aber für mich ist es wichtiger, mich bei allen im Team darauf verlassen zu können, dass sie mit den anderen kooperieren. Ich hab mal ’ne kitschige Grußkarte mit dem Text gesehen, wahre Liebe sei nicht, sich in die Augen zu sehen, sondern Schulter an Schulter zu stehen und in die gleiche Richtung zu blicken. Und bei der Arbeit in diesem Spezialteam muss es genauso sein. Dies ist wirklich die letzte Warnung. Wenn ich Sie wieder bei so etwas erwische, werden Sie versetzt.« Sie trank ihr Glas leer, ohne den Blick von ihm zu wenden. »Und jetzt möchte ich einen Wodka Tonic, bitte.«
Carol sah ihm nach. Seine Wut sprach aus seinen Bewegungen. Sie hoffte, dass er außer Wut auch noch etwas anderes fühlte, das ihn innehalten und über seine Zukunft nachdenken ließe.
Sie wünschte, sie könnte zu ihm durchdringen und ihm erklären, warum sie so streng war. Aber sie wusste auch, dass er es falsch verstehen würde, weil es von ihr kam.
Als er mit ihrem Glas zurückkam, hatte er seinen Zorn verdrängt. Seiner Haltung war nicht anzumerken, ob er jemals etwas anderes sein könnte als ein pflichtbewusster Angestellter. »Ich hab mich danebenbenommen«, erklärte er und vermied es, ihr in die Augen zu sehen. »In der Schule war ich ein Läufer, kein Fußballspieler. Den Dreh hatte ich nie raus. Wissen Sie, was ich meine?«
»Komisch, aber ich verstehe es.« Sie nippte an ihrem Glas. Das eine Barmaß Wodka war so schwach, dass es kaum der Mühe wert schien. »Was meinen Sie? Zeit wieder nachzusehen?«
Zehn Minuten später standen sie vor Rhys Butlers Haus. Es war jetzt völlig dunkel. Und immer noch kein Lebenszeichen von ihm.
»Sollten wir mal hinten nachsehen?«, fragte Sam.
»Warum nicht?« Sie gingen die Straße fast bis zur Ecke hinunter. Zwischen den Häusern verlief eine Gasse, die an den Hinterhöfen und Gärten vorbeiführte. Sam zählte die Häuser, und sie blieben schließlich hinter Butlers Behausung stehen. Er probierte den Griff der Tür in der Mauer und schüttelte den Kopf. Carol legte die Hand hinters Ohr.
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