Schleier der Traeume
sie allein. Stirnrunzelnd setzte sie sich auf und sah sich im Zimmer um. Sie befand sich wieder in ihrer Wohnung. Von Sean nichts zu sehen – nicht mal eine Nachricht hatte er ihr hinterlassen.
»Du rufst nicht an, du schreibst nicht …«, seufzte sie beim Aufstehen, humpelte in die Küche und entdeckte dort eine Tüte puderzuckerbestreute Donuts, eine Cola und einen Stapel gefaltete Wäsche: genau die Klamotten, die sie am Vorabend getragen hatte, als sie zu Sean gegangen war.
»Ich liebe diesen Mann.« Grinsend riss sie die Tüte mit den Minidonuts auf, die zu ihren liebsten Lastern gehörten. »Und ich glaube, er ist wirklich ein Hellseher.«
Da sie sich etwas wund fühlte nach dem Liebesspiel der Nacht und des Vormittags, begab sie sich unter die Dusche und stellte sich eine gute halbe Stunde unter den heißen Strahl. Unfassbar, wie gut ihre Wundheit sich anfühlte! Sie hatte Kratzer von den Bartstoppeln rund um die Brüste, an den Hüften blühten blaue Flecke in Fingerform, und an der rechten Schulter dürfte eine Bissspur prangen. Ihre Glieder waren nicht steif, sondern entspannt und schmerzten so schwach und befriedigend, wie es nach schönem, ausgedehntem Sex der Fall zu sein pflegte.
Als ob das, was wir miteinander getrieben haben, bloßer Sex gewesen wäre, dachte sie, als sie sich abtrocknete und im Spiegel die Male betrachtete, die er ihr hinterlassen hatte. Sie würde einiges darauf wetten, dass auch er eine hübsche Menge entsprechender Kratzer links und rechts der Wirbelsäule aufwies, Kneifspuren auf den Innenseiten der Schenkel und Bissspuren entlang des Kiefers. Es war albern, aber erstmals wusste sie nicht, wie oft sie gekommen war. Dem belämmerten Lächeln nach allerdings, das ihr für alle Zeiten ins Gesicht gekleistert schien, musste es sich um eine zweistellige Zahl gehandelt haben.
Natürlich rührte ihr Lächeln auch daher, dass sie am Vorabend ihre Gestalt nicht gewandelt hatte.
Rowan hatte gewusst, dass es falsch war, in seinem Hirn zu schnüffeln, doch nach dem letzten Liebesspiel hatte sie es einfach herausfinden müssen. Sie war aufgestanden, hatte den Handspiegel aus der Tasche gezogen, war wieder zu Sean gegangen, hatte sich hingekniet, sein Handgelenk gehalten und im Spiegel verfolgt, wie ihre Gestalt sich veränderte.
Doch ihre Gestalt hatte sich nicht verändert.
Erstmals war der Traumschleier nicht über sie gefallen, und ihr Körper hatte sich nicht verändert – kein Muskel war gewachsen, kein Knochen länger geworden. Und dafür konnte es nur einen Grund geben.
Sie war Sean Meridens Traumfrau, und er liebte sie, Rowan Dietrich. Und keine andere, in die der Traumschleier sie verwandelt hätte.
Heute nach der Arbeit müsste sie etwas Besonderes für ihn tun, um ihm ihre Wertschätzung zu zeigen, vielleicht nach Restaurantschluss ein Mitternachtsmahl für sie beide kochen. Sean mochte Pizza und Bier für höchste Genüsse halten, hatte aber nie probiert, was sie aus Lamm und weißen Bohnen machen konnte.
Der Gedanke, für ihn zu kochen, ließ ihren Magen knurren, doch ihre einzige Nahrung waren ein paar Pflaumen, die sie gierig verschlang. Da ihr kaum Zeit blieb, schmierte sie sich rasch ein Sandwich und nahm es nach unten mit.
Lonzo stand bereits in der Küche, inspizierte ihre Station und betrachtete stirnrunzelnd ihr Brot.
»Du bist Souschef des besten französischen Restaurants der Stadt und isst Erdnussbutter mit Marmelade?«, fragte er naserümpfend.
Rowan streckte ihm eine Hälfte hin, und er musterte das Brot argwöhnisch, bevor er hineinbiss.
»Gar nicht so übel.« Lonzo gab ihr eine Schürze und legte selbst eine an. »Schon etwas plötzlich, dass er dich so befördert hat. Ich kenne ihn: Er glaubt, du bist der Aufgabe gewachsen, weil ich dich so gut angelernt habe. Und was wird aus mir?« Er schwenkte die Hand.
»Ich habe gestern niemanden vergiftet«, sagte sie. »Und das war nicht meine Idee, Chef. Ich wäre gern Küchenhilfe geblieben.«
»Lonzo«, verbesserte er sie. »Du bist nicht länger unser
tournant
, Trick.«
Rowan war von der Sympathie überrascht, die sie für den Älteren empfand. »Suchen Sie ruhig weiter nach einem neuen Souschef. Ich bin nicht mehr lange hier.«
Und plötzlich erschien ihr die Nacht mit Sean nicht mehr ganz so wunderbar und erstaunlich wie noch vor wenigen Minuten.
Wenn sie New York verließ, musste sie auch ihn verlassen.
»Weißt du, was du hier leisten kannst?«, fragte Lonzo sie gerade. »Welchen Namen du
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