Schleier der Traeume
die Liebe eigentlich war, doch falls Dansant sich bisher noch nicht verliebt hatte, konnte sie ihm wenigstens eine Vorahnung auf die Frau vermitteln, die ihn einst erwartete.
Kaum griff sie nach dem Bild seiner Traumfrau, wurden die Dinge seltsam: Es passierte nichts – ihre Gestalt wandelte sich nicht.
»Ich habe sie bereits getroffen.« Er strich ihr mit den Fingern über die Wange und ging.
Rowans Beine gaben nach, und sie musste sich an der Schreibtischkante festhalten, um nicht zu Boden zu gehen. Ihre Fähigkeit hatte sie seit dem Abend, an dem sie sich das erste Mal gezeigt hatte, nie im Stich gelassen. Sie konnte sich in die Frau verwandeln, die für denjenigen, den sie berührte, die Traumfrau war. Der Traumschleier hatte sie kein einziges Mal enttäuscht. Und nun hatte er sie binnen eines Tages gleich zweimal im Stich gelassen.
Wie soll jemand wie ich wissen, ob sich ein Junge wirklich für mich interessiert?
Das hatte sie Drew am letzten Abend in Savannah zum Abschied gefragt.
Er hatte gelächelt.
Das ist einfach. Wenn er deine Hand hält, verwandelst du dich nicht in Angelina Jolie
.
Sie hatte sich nicht in Angelina Jolie verwandelt, als sie Sean Meriden am Vorabend berührt hatte. Sie hatte sich in niemanden verwandelt. Und zwar deshalb nicht, weil sie Meridens große Liebe war.
Und nun wusste sie, dass sie auch die große Liebe von Jean-Marc Dansant war.
17
Rowan schaffte es durch die restliche Schicht. Irgendwie. Sie verbrachte viel Zeit damit, stumm damit zu hadern, dass nicht einer, sondern zwei Männer in sie verliebt waren. Theoretisch war das möglich; viele Menschen verliebten sich mehr als einmal im Leben. Wie ließ sich verhindern, dass gleich zwei Männer auf sie flogen?
Vielleicht klappt es ja nicht mehr
, überlegte sie und verspürte eine Panik, mit der sie nie gerechnet hatte. Ihre Fähigkeit hatte ihrem Ego jede Menge Schaden zugefügt, war aber stets nützlich gewesen, gerade in mach heikler Situation. Schließlich pfefferte sie ihr Handtuch in die Ecke, rief Enrique und zog ihn durch die Hintertür ins Freie.
»Ja, Trick? Äh, ich meine, Chef?«
»Beweg dich nicht.« Sie stellte ihn so hin, dass er mit dem Rücken zur Küche stand und ihr Spiegelbild in einem Fenster schwach sichtbar war. »Gib mir die Hand.«
Enrique tat, wie ihm geheißen. Rowan nahm seine Rechte und begann sich zu verwandeln. Kurz darauf sah ihr ein dunkelhäutiges, umwerfend schönes afroamerikanisches Mädchen aus der Glasscheibe entgegen. Und siehe da – plötzlich war sie stolze Besitzerin eines Vorbaus, dessen Üppigkeit selbst gestandene Männer aus dem Häuschen bringen konnte.
»Takeisha?«, murmelte Enrique mit großen Augen.
»Magst du mich wirklich?«, fragte sie ihn mit leiser, singender Stimme. »Dann solltest du es mir sagen,
Amigo
.«
»
Sì
, das sollte ich.« Er wirkte benommen.
Rowan ließ Enrique los, und ihr Körper nahm wieder sein normales Aussehen an. Kaum stand sie als Rowan vor ihm, hellte sich seine Miene auf, und er hatte vergessen, was sie getan hatte – eine seltsame, aber übliche Folgeerscheinung des Traumschleiers.
»Chef?« Er runzelte die Stirn. »Soll ich den Müll rausbringen?«
»Nein, Enrique.« Sie klopfte ihm auf die Schulter. »Ich dachte, hier draußen liegt eine tote Ratte. Aber sie ist verschwunden. Geh wieder rein.«
Sie wollte ihm schon folgen, da hörte sie hinter sich ein Schlurfen. Als sie sich umdrehte, sah sie das obdachlose Mädchen ins Licht treten.
»Ich weiß, was du bist«, sagte sie. »Ich hab gesehen, was du getan hast.«
Rowan fluchte in sich hinein. »Das war bloß ein Zaubertrick.«
Das Mädchen schüttelte den Kopf, zerrte einen Ärmel hoch, trat weiter ins Licht und präsentierte das alte Tattoo eines schwach blau schillernden Widders.
»Wo hast du das her?«, fragte Rowan.
»Keine Ahnung.« Sie schob den Ärmel wieder runter. »Das hatte ich immer. Auf dem anderen Arm ist noch so eins.« Sie wies mit dem Kopf auf Rowans Ärmel. »Genau wie bei dir.«
Ihre Stimme hatte etwas unerträglich Vertrautes, fand Rowan, aber dieses Mädchen war viel zu jung, um zu den Takyn zu gehören. Judith war als einzige Takyn jünger als Rowan und auch schon zwanzig. »Du bist unmöglich eine …«
»Was? Was bin ich?«, wollte das Mädchen wissen. »Wer hat mich so gemacht? Warum kann ich nicht damit aufhören?«
Ihre Wut bestürzte Rowan. »Womit aufhören? Was ist dir zugestoßen?«
»Nichts.« Zwei Tränen liefen ihr über die schmutzigen
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