Schleier der Traeume
zugänglich war. Sollte überraschend jemand bei ihr auftauchen, konnte sie mit ihren Sachen ins Nachbarzimmer schlüpfen und unbemerkt entkommen.
Sie ging ins Bad, stieg in die Duschkabine, zog die Hose runter, hockte sich hin und pinkelte in den Ausguss. Sie hatte üben müssen, sich auf diese Weise zu erleichtern, ohne sich einzunässen. Als sie fertig war, trat sie aus der Kabine und schüttete aus einem kleinen Krug, den sie hinter der Toilettenschüssel versteckte, etwas Bleichmittel in den Ausguss, sodass der Uringeruch sofort verschwand.
Sie kehrte ins Zimmer zurück, schlüpfte aus der Jacke, hängte sie im Schrank auf einen Bügel und musterte den halb leeren schwarzen Müllsack, der ihre wenigen Kleider und Schuhe enthielt. Die zusätzliche Decke im Schrank hatte sie über einen Berg von Laken und Kissen gebreitet, die sie in einer anderen Etage aus ein paar Zimmern geholt hatte, um sich ein Bett zu machen. Weil der Schrank nur einen knappen Meter breit war, musste sie zusammengerollt schlafen, und ihre an den Leib gezogenen Knie berührten die Tür, aber in dieser Enge fühlte sie sich sicherer als im Bett, das ihr ganz ungeschützt vorkam.
Erst war es, als rollte sie sich in einem Kühlschrank ein, doch recht bald wurde es in dem engen Gelass gemütlich. Die drei Decken aus den anderen Zimmern hielten ihre Körperwärme und ließen sie auch in den kältesten Nächten nicht frieren.
Sie machte sich nicht die Mühe, die Schuhe auszuziehen, sondern mummelte sich ein und biss die Zähne zusammen, damit sie nicht klapperten. Kaum war ihr warm, knurrte der Magen. Nachdem sie ihm ein paar Minuten gelauscht hatte, zog sie einen halben Müsliriegel aus der Jeans. Die Verpackung knisterte, und sie hielt sich das aufgerissene Ende unter die Nase. Obwohl der Riegel inzwischen muffig roch, ließen die weiße Schokolade, die gerösteten Körner und das Trockenobst ihr das Wasser im Munde zusammenlaufen. Das war ihr letzter Essensvorrat, und sie wusste, dass sie ihn für den nächsten Tag aufsparen sollte, doch sie war einfach zu hungrig, als dass sie hätte einschlafen können.
Mit brennenden Augen knabberte sie daran und kaute ausgiebig jeden Bissen, damit der Riegel möglichst lange vorhielt. Noch ein Jahr zuvor hatte sie warm, satt und behaglich in ihrem Bett geschlafen und nicht geahnt, wie gut sie es hatte, sondern all das selbstverständlich gefunden. Damals hatte sie binnen einer Woche mehr Essen verschwendet, als ihr jetzt für einen ganzen Monat zum Leben zur Verfügung stand. Und dann war ihr schönes Dasein dahin gewesen, als hätte es nie existiert.
Keine Fehler mehr machen
.
Taire griff unter ein Kissen, holte die Taschenlampe hervor, die sie im Erdgeschoss in einer Besenkammer gefunden hatte, knipste sie an und zog ein gefaltetes Blatt aus dem Sack ihrer Habseligkeiten. Auf dem professionell gedruckten Hochglanzzettel prangte ein mit genauer Personenbeschreibung versehenes Mädchenfoto. Wer Informationen hatte, die zum Auffinden von Alana King führten, bekäme – so versprach der Flyer – fünfhunderttausend Dollar Belohnung. Dazu war es nur nötig, die gebührenfreie Nummer auf dem Flugblatt zu wählen.
Taire zerknüllte das feste Papier, glättete es aber wieder, faltete es sorgsam zusammen und steckte es zurück in ihren Sack. Sie war überzeugt, dass Rowan ihr helfen konnte, doch diese Hilfe zu erbitten, wäre fast so schlimm wie ein Anruf bei der Alana-King-Hotline. Sie kannte Rowan nicht. Vielleicht wollte das Bikermädchen ihr ja nicht helfen. Womöglich würde sie Taire sogar der Polizei ausliefern.
Sie war so nahe dran, dass es ihr ungerecht erschien, wie viele Dinge jetzt noch schiefgehen konnten. Doch genau diese Gefahr bestand, und wie beim letzten Mal vermochte eine falsche Entscheidung alles zu zerstören. Sie musste sehr vorsichtig sein, um nicht die letzte Chance zu vertun, mit ihrem Vater ins Reine zu kommen. Wenn sie das nicht in Ordnung brächte, würde er sie nie nach Hause zurückkehren lassen. Er würde sie nicht ins Zimmer schicken. Diesmal würde er dafür sorgen, dass sie niemals mehr einen Ort haben würde, an dem sie leben könnte, oder einen Menschen, den sie lieben könnte.
Diesmal würde er sie umbringen.
Wird schon werden
. Taire schmiegte eine kalte Hand an die Wange, schloss die Augen und stellte sich vor, wieder in ihrem Bett zu liegen – umgeben von weißen Spitzengardinen und sauberem Leinen – und einzuschlafen, während draußen Schnee fiel.
Rowan ist
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