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Schleier der Traeume

Schleier der Traeume

Titel: Schleier der Traeume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lynn Viehl
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entdeckt, nachdem sie in der Zeitung gelesen hatte, dass seine Nachkommen einander wegen des Erbes verklagten, weil das Grundstück den hungrigen Baulöwen New Yorks viele Millionen Dollar wert war. Solange das Verfahren nicht entschieden und die Eigentumsfrage nicht endgültig geklärt war – und das würde dem Blatt zufolge Jahre dauern –, stand das Hotel leer und verrottete langsam hinter dem graffitibedeckten Sperrholz, mit dem Türen und Fenster vernagelt waren.
    Der Bau war nicht so übel wie manch anderer Ort, an dem Taire geschlafen hatte. Einmal hatte sie sich ein Wochenende lang in einem Lagerhaus im Schlachthofviertel versteckt, und vom Gestank nach altem Blut und rohem Fleisch war ihr so schlecht geworden, dass sie wieder von sich geben musste, was immer sie zu essen versuchte. Sie war klug genug, sich nicht im Central Park schlafen zu legen, dort aber eines Nachmittags vor Erschöpfung auf einer Bank eingenickt und erst aufgewacht, als im Dunkeln ein alter Säufer in ihren Jackentaschen nach Geld wühlte.
    Es war ihm nicht einmal peinlich gewesen, ertappt zu werden.
Hast du nichts, was du mir geben kannst, Mädchen?
    Taire versuchte, nicht an ihn zu denken, doch manchmal erwachte sie, roch seinen faulig und nach billigem Wein stinkenden Atem und sah seine blutunterlaufenen Augen aus den Höhlen treten, als wollten sie aus seinem alten, schmutzigen und verschorften Gesicht springen.
    Es war nicht meine Schuld. Ich war so müde
.
    Als sie sich sicher war, dass niemand zusah, schloss Taire die Augen. Dann flitzte sie über die Straße, schob sich durch eine schmale Öffnung zwischen zwei lockeren Brettern, rückte das Holz wieder so zurecht, dass von außen kein Zugang zu ahnen war, und ging zum alten Empfangstresen.
    Die Stadt hatte die Wasser- und Stromversorgung des Gebäudes schon lange vor Taires Einzug gekappt, und so war es drinnen so kalt wie draußen; obendrein drang kein Licht durch die zugenagelten Fenster. Mehrmals war sie gestolpert und gestürzt und hatte sich Gesicht und Hände zerkratzt und aufgeschürft, doch nun kannte sie jeden Quadratzentimeter des Hauses und bewegte sich trotz der Dunkelheit unbefangen und trittsicher durch das Labyrinth von verrottenden Möbeln in der Lobby. Ihr Atem hinterließ in der eisigen Luft Wolken.
    Um nicht entdeckt zu werden, hatte sie nichts verändert, sondern die spinnwebenübersäten Vorhänge aufgezogen gelassen und darauf geachtet, dass sich auf dem Empfangstresen weiter nur Staub und tote Insekten sammelten. Ratten waren ein Problem gewesen, bis Taire alle Schlupflöcher gefunden und mit Gipsplatten und Spachtelmasse von einer nahen Baustelle versiegelt hatte.
    Jedes Mal, wenn sie etwas stahl, zerrten Schuldgefühle an ihr. Sie war keine Diebin. Aber etwas zu nehmen, das ihr nicht gehörte, war besser, als aufzuwachen und festzustellen, dass eine Ratte ihr ein paar Haarsträhnen weggenagt hatte, um sie in ihrem Winternest zu verbauen.
    Weil die Aufzüge nicht mehr funktionierten, nahm Taire die Dienstbotentreppe, um in ihr Zimmer im vierten Stock zu gelangen. Dabei prüfte sie bei jedem Schritt, ob sich neue Fußspuren oder andere Hinweise darauf finden ließen, dass noch jemand eingezogen war. Ein leer stehendes Gebäude war eine Einladung für jeden Obdachlosen, und außerdem verrotteten die Sperrholzbretter allmählich. Dieser Winter würde schlimm werden; sie konnte die kommenden Schneestürme fast schon riechen. Sollten Hausbesetzer sich Zutritt zum Gebäude verschaffen, könnte sie sie nicht vertreiben, sondern müsste weiterziehen und sich eine neue Bleibe suchen.
    Sie dachte an den bläulichen Schimmer, der ganz kurz aus Rowans Ärmeln gedrungen war.
Oder vielleicht muss ich das auch nicht
.
    Die Tür zu ihrem Zimmer war zugesperrt wie alle anderen, doch sie hatte einen Generalschlüssel aus dem Schreibtisch des Hoteldirektors gemopst und schloss damit auf. Ihr Zimmer war das kleinste auf der Etage und enthielt nur ein für zwei Personen geeignetes französisches Bett mit billiger, braun-grüner Tagesdecke im Paisleymuster, ein leeres TV -Möbel (die Erben hatten sich die Fernsehgeräte gesichert, ehe der Prozess losgegangen war) und ein enges Bad. Der Rest Wasser in der Toilettenschüssel war gefroren.
    Taire hatte das Zimmer nicht wegen des Betts gewählt, in dem sie noch nie geschlafen hatte, sondern wegen des Wandschranks hinter der Tür. Das kleine Zimmer lag neben einer weit größeren Suite, die durch die Rückwand dieses Schranks

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