Schleier der Traeume
schlicht ein wenig eingelullt. Dansant war ein anständiger Typ, der ihr überaus freundlich und mitfühlend begegnet war. Welche Bedingungen mit diesem kleinen Wunder auch verbunden sein mochten: Vorläufig würde sie die Situation genießen.
Das Studentenfutter mit seinen Nüssen und Rosinen und seiner Schokolade besänftigte die knurrende Bestie in ihrem Magen, aber Rowan würde einkaufen und die Vorräte aufstocken müssen, bevor sie heute mit der Arbeit begann. Dansant hatte ihr gesagt, er koche für das Personal traditionell jeden Abend ein Gemeinschaftsessen, und sie dürfe sich aus der Speisekammer bedienen, aber sie nutzte ihn ohnehin schon aus. Sie hatte Geld genug für ihre Grundbedürfnisse, und vom Lohn, auf den sie sich geeinigt hatten, blieben ihr wöchentlich sicher dreißig, vierzig Dollar für Lebensmittel. Sofern sie nicht verschwenderisch wäre, sollte das für ihre Bedürfnisse genügen.
Dansant hatte ihr versprochen, dass Meriden – der Mann aus der Nachbarwohnung – ihr Motorrad günstig reparieren würde, doch Rowan ahnte schon, dass da erheblich größere Ausgaben lauerten. Auch wenn Meriden Rabatt auf die Reifen bekäme, würden schon sie allein mindestens dreihundert Dollar verschlingen.
Sie überschlug ihre Ausgaben, die Reparaturkosten und die Rückzahlung dessen, was Dansant Bernard gegeben hatte. Sofern keine weiteren unerwarteten Ausgaben auf sie zukämen, dürfte sie spätestens Ende Januar genug verdient haben.
Sieht aus, als verbrächte ich Weihnachten in New York
. Sie hatte den Gedanken gefürchtet, die Feiertage allein und ohne Freunde in Boston überstehen zu müssen. Hier dagegen erlebte sie womöglich ein wenig Festtagsstimmung mit Dansant und seiner Küchenmannschaft.
Seit dem Tod der Schwestern, die sie aufgenommen und sich um sie gekümmert hatten, war sie Weihnachten stets allein gewesen. Matt hatte die Festtage nie gefeiert, und sie hatte das nicht zu ändern versucht, weil er schon genug mit all den Veränderungen zu kämpfen hatte, die sich in den zweitausend Jahren zugetragen hatten, seit er Soldat des römischen Heeres gewesen war. Rowan hatte ihm einmal die Bedeutung des Weihnachtsfests erklärt, und er war entsetzt gewesen.
»Ich habe von ihm gehört«, hatte er gesagt, »von diesem Jesus von Nazareth. Er hat Unruhen in Judäa ausgelöst, bei denen es viele Tote gab. Aber sein Volk hat ihn nicht Jesus oder Christus genannt. Bei seinen Leuten hieß er Joshua.«
Noch immer kicherte Rowan bei der Vorstellung, dass der Sohn Gottes so gerufen worden war. Ohne die Römer und ihre Übersetzung des Hebräischen ins Lateinische würden sie heute womöglich nicht Christi Geburt, sondern die Joshuas feiern. Grinsend trank sie ihren stark gesüßten Kaffee aus und durchsuchte ihre Satteltaschen erneut, diesmal nach frischer Wäsche und ihrem Kulturbeutel.
Als Rowan ein Handtuch aus dem Schrank nahm, fragte sie sich, wann Meriden gewöhnlich das gemeinsame Bad nutzte. Dansant hatte nur gesagt, ihr Nachbar arbeite tagsüber; hoffentlich duschte er morgens oder abends. Den ganzen Abend in einer voll ausgelasteten Küche zu arbeiten, war eine schmutzige Angelegenheit, und sie wusste aus Erfahrung, dass sie vor dem Schlafengehen ein Bad nehmen musste. Notfalls allerdings konnte sie sich auch in ihrer Wohnung mit einem Waschlappen säubern. Solange sie fließendes Wasser und eine Spüle hatte, müsste sie sich nicht verschwitzt oder stinkend ins Bett legen.
Rowan nahm ihre Sachen, verließ die Wohnung und schloss die Tür ab. Als sie hinter sich Schritte hörte, drehte sie sich lächelnd um.
»Sagten Sie nicht, Sie würden –« Sie verstummte, als sie sah, was für ein Hüne aus dem Apartment gegenüber kam. Er war zweifellos zu groß und zu breit, um ihr neuer Chef zu sein. »Verzeihung – ich hatte Sie für jemand anderen gehalten.«
Er sperrte seine Tür ab und schob einen Schlüsselbund in die Tasche, bevor er sie ansah.
»Sie müssen Meriden sein.« Sie streckte ihm die freie Hand entgegen. »Ich bin Rowan, Ihre neue Nachbarin.« Weil er ihre Hand ignorierte, ließ sie den Arm sinken. Er mochte denken, sie beleidigt zu haben, doch sie war plötzlich froh, ihn nicht berühren zu müssen. Und ihr fiel partout nicht ein, ob Dansant ihr den Vornamen des Nachbarn genannt hatte. »Sie sind doch Mr Meriden, oder?«
»Bloß Meriden.« Im dunklen Flur war seine Miene nicht zu erkennen, doch sein angespannter Bariton ließ vermuten, dass er nicht lächelte.
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