Schleier der Traeume
kleinen Fernseher in der Wohnung, die Dansant ihr überlassen hatte, gar nicht erst eingeschaltet, sondern war ins Schlafzimmer gegangen, hatte die Tagesdecke von dem schwarzen Futon gezogen und sich darauffallen lassen, um zu sehen, ob sie bequem lag. Die meisten Liegen und Einzelbetten waren für sie zu kurz, doch hier handelte es sich um ein überlanges Doppelbett mit anständiger Matratze. Das Letzte, woran sie sich erinnerte, war, dass sie die honigfarbene, mit Glasperlen verzierte Kieferndecke betrachtet hatte, die ihr erheblich neuer vorgekommen war als das schachbrettartige Parkett aus Eichen- und Kirschholz.
Dann nichts. Nur süßer, unendlicher, traumloser Schlaf.
Sie schlug die Augen auf, sah zu der gleichen Holzdecke empor, lag für eine Weile da und ließ das durch drei alte Flügelfenster einfallende Sonnenlicht über sich spielen. Aus der Intensität des Lichts und dem Stand der Sonne schloss sie, dass es früher Nachmittag war – demnach hatte sie sechs oder sieben Stunden durchgeschlafen. Und bis zum Beginn ihrer ersten Schicht um sechs blieb ihr noch viel Zeit.
Rowan war klar, dass sie viel Glück gehabt hatte.
Ich könnte im Krankenhaus liegen und dafür sorgen, dass einigen Ärzten der Arsch auf Grundeis geht.
Ihre Knie pochten etwas, doch dass sie beim Anwinkeln leicht spannten und ein wenig steif waren, bewies, dass sich bereits dicker Schorf gebildet hatte. Morgen würde er dann abfallen, und die Schürfwunden wären verheilt. Auch das hatte sie den verrückten Wissenschaftlern zu verdanken, die an ihren Genen herumgedoktert hatten, als sie noch ein kleines Kind gewesen war: Sie erkrankte nie, und ihre Verletzungen verschwanden fast genauso schnell, wie sie gekommen waren.
Sie rollte sich auf die Seite, umarmte ihr Kissen und vergegenwärtigte sich träge einige Szenen des Gesprächs mit Dansant vom Vorabend.
Und Sie wollen mich hier wirklich wohnen lassen?
Sie war aus dem großen Schlafraum ins geräumige Wohnzimmer mit Essecke und Balkon gekommen. Die Möblierung war einfach – im Schlafraum standen bloß ein Futonbett und ein Nachttisch mit Leselampe, im Wohnzimmer ein kleines Sofa, ein Lehnstuhl und die Kücheneinrichtung mit Essecke, doch alles war sauber und in gutem Zustand. Es gab auch einen Wandschrank voll frisch gewaschener, ordentlich gebügelter Laken und Handtücher.
Mit dieser Wohnung könnten Sie locker drei-, viertausend Dollar im Monat verdienen
.
Nicht jeder möchte über einem Restaurant wohnen, Rowan – und das Bad müssen Sie sich mit dem anderen Mieter teilen.
Sie hatte bereits einen Blick in das große, bestens eingerichtete Bad zwischen den beiden Wohnungen geworfen. Jemand hatte die Leitungen kürzlich mit Armaturen im europäischen Stil versehen und die Wände gefliest, und die honiggelben Deckenkacheln spiegelten sich im polierten Schiefer des Bodens. Rowan konnte sich mühelos vorstellen, stundenlang in der großen, mit Klauenfüßen verzierten Wanne zu liegen.
Das Türschloss funktioniert doch, oder?
Mais oui
.
Danach hatte Dansant ihr lächelnd die Schlüssel gegeben und sie allein gelassen. Zugang zu allen Räumen, völliges Vertrauen.
Der Mann war ein Heiliger. Der Mann war geistesgestört.
Hunger trieb Rowan aus dem Bett, und beim Durchstöbern ihrer Satteltaschen entdeckte sie eine ungeöffnete Packung Studentenfutter. Die Inspektion der Schränke und Schubladen in der Kochnische brachte eine saubere Schüssel und einen Löffel zum Vorschein. Sie ließ das Warmwasser laufen, bis es heiß aus dem Hahn kam – natürlich war der Durchlauferhitzer des Restaurants auf eine höllische Temperatur eingestellt –, und brühte sich aus den drei Beuteln Instantkaffee, die sie im letzten Motel hatte mitgehen lassen, eine Tasse Kaffee.
Wenn mich jetzt noch ein großer, halb nackter Kerl mit Weintrauben füttert und mir Luft zufächelt, weiß ich, dass ich im Himmel bin
.
Das improvisierte Frühstück auf den Balkon zu tragen, erschien ihr so natürlich, wie auf dem korbgeflochtenen Verandastuhl zu sitzen und das mittägliche Verkehrschaos in der Stadt von oben zu betrachten. Die Wohnung ihres Nachbarn ging zur anderen Seite des Hauses; sollte er also einen Balkon haben, würde er nur auf die Gasse sehen. Sogar den besseren Ausblick hatte sie!
Dass dies alles etwas zu schön war, um wahr sein zu können, bereitete ihr keine Probleme. Rowan fühlte sich erstmals seit ihrer Abreise aus Savannah wieder sicher. Ihre übliche Wachsamkeit, ihr Misstrauen waren
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