Schleier der Traeume
einige Nachzügler aus der Vorstellung, doch keiner erwies sich als Jean-Marc oder seine Dame in Schwarz.
Cyprien holte sie ein, als sie gerade leise zu fluchen begann. »Alex, was ist los?«
Sie drückte die Finger an den Mund und musterte ein letztes Mal die Gesichter ringsum. »Es waren seine Züge, Michael.«
»Ja, wie du sagtest, haben wir wohl die gleichen –«
»Nein, habt ihr nicht.« Sie wandte sich ihm zu und sah ihm ins Gesicht, das sie aus einer blutigen Masse Fleisch und Knochen remodelliert hatte, nachdem Michael Cyprien geschlagen und gefoltert worden war. »Ich habe dir dieses Gesicht gegeben, und obwohl es den Zügen, mit denen du geboren wurdest, sehr ähnelt, ist es nicht das gleiche.«
»Was willst du damit sagen?«
»Erinnerst du dich an das Gemälde, das du Philippe zu mir nach New Orleans hast bringen lassen? Das Bildnis von dir zu Pferd auf dem Schlachtfeld mit all den Leichen?« Er nickte, und sie fuhr fort: »Dieser Jean-Marc ist nicht dein Zwillingsbruder. Er ist ein Zwilling des Mannes auf dem Gemälde. Er sieht genauso aus wie du, bevor die Brüder dein Gesicht zerstörten.«
Michael zuckte mit den Achseln. »Also war er mein Zwilling, bevor ich gefoltert wurde. Wo ist der Unterschied?«
»Am Unterkiefer hatte er ein kleines Muttermal.« Sie berührte die entsprechende Stelle in seinem Gesicht. »Genau dort, wo es im Gemälde sitzt. Dieses Mal hast du nicht mehr, weil ich dir dort bei der Remodellierung des Kiefers Haut transplantieren musste.«
»Verstehe.« Michael wurde nachdenklich. »Interessanter Zufall.«
»Ich glaube nicht an Zufälle. Nach deiner Gefangennahme in Rom haben die Brüder – sagtest du – tagelang auf dich eingeschlagen, bevor Philippe dich befreien konnte.« Als Michael nickte, fragte sie: »Haben sie sonst noch etwas getan? Haben sie einen Arzt geholt? Hat er dich operiert?«
»Nein. Sie haben mich nur befragt, sie …«
Er verstummte und rieb sich das Gesicht. »Einmal kam ein neuer Mann in meine Zelle. Ich konnte ihn kaum erkennen, aber er roch anders. Er hat wie die Übrigen Fragen gestellt, aber nicht nach den Darkyn und wo sie zu finden sind. Er wollte von meiner Fähigkeit hören.«
»Und hast du ihm etwas erzählt?«
»Nein,
Chérie
. So wenig wie den anderen, die mich verhört haben.« Er legte ihr den Arm um die Taille. »Es wird kalt. Wir sollten ins Hotel zurückkehren.«
»Und du bist sicher, dass er dich nicht operiert hat?«
Michael überlegte kurz. »Ich war die ganze Zeit bei Bewusstsein, als er bei mir war. Er hat mich nicht angefasst und rascher aufgegeben als die anderen, aber ich glaube, er wollte mich ins Vernehmungszimmer bringen lassen. Jedenfalls hat er den Wächter gefragt, wo es sich befindet. Aber dann ist er gegangen, und ich habe ihn nicht mehr gesehen oder gerochen. Tut mir leid, mehr fällt mir nicht ein.«
»Schon gut. Ich wollte dich gar nicht an diesen Mist erinnern.« Alex verzog das Gesicht. »Lass uns ins Hotel zurückkehren und es mich wiedergutmachen.«
Sie schwieg über das Thema bis eine Stunde vor der Morgendämmerung, als sie und Michael in der riesigen Wanne ihrer Suite lagen. Alex war wunderbar erschöpft nach der ausgiebigen Liebesnacht und froh darüber, ihren Geliebten auf dieser Reise zu begleiten. Opern mochten nerven, aber Einkaufen konnte man in New York herrlich, und sie hatte viel Zeit damit verbracht, bessere Geräte für ihr Labor zu besorgen. Obwohl sie nicht länger nach einem Mittel gegen die blutbedingte Unsterblichkeit der Darkyn suchte, erfasste sie weiter die Blutgruppen der Kyn und deren infizierte DNA -Abschnitte. Eines Tages könnte sie die Fähigkeiten der Kyn vielleicht auf die ursprüngliche Infektion zurückführen, mit der all das im Dunklen Zeitalter begonnen hatte.
Das Nachdenken über ihre Arbeit mit den Blutproben ließ Alex plötzlich nach Luft schnappen. Sie fuhr so rasch herum, dass Wasser aus der Wanne spritzte.
»Noch mal,
Chérie
?« Michael sah hoffnungsvoll drein.
Sie küsste ihn auf den Mund, doch bevor er konkreter werden konnte, entzog sie sich ihm. »Der Mann, der in Rom in deine Zelle kam, dieser Fremde – hat er dir ärztliche Fragen gestellt?«
»Er klang wie du, wenn du im Labor arbeitest.« Er zog sie an sich. »Mach das noch mal.«
»Warte, Schatz.« Sie legte ihm die Hände auf die Schultern. »Warum sollten die Brüder einen Arzt mit dir reden lassen? Sie bieten ihren Gefangenen keine medizinische Versorgung. Und warum sollte ein Arzt ein
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