Schleier der Traeume
einem seiner Hemdknöpfe. »Sie dürfte etwa sechzehn sein, also so alt wie ich, als ich mich endgültig aus der Pflege abseilte. Ich möchte ihr sagen, dass ich weiß, wie sie sich fühlt, und ihr helfen, eine Zuflucht zu finden, aber sie lässt mich nicht an sich ran. Sie schnappt sich das Essen und haut ab.«
»Sie helfen ihr, indem Sie ihr Essen geben.«
»Das reicht nicht. So ein Mädchen braucht ein Zuhause, ein richtiges Bett, saubere Sachen und jemanden, der sich um sie kümmert. Verdammt, wenn ich sie hierherbringen und bei mir wohnen lassen könnte, würde ich das tun.«
»Und sie würde Ihnen eins auf den Schädel geben und Sie ausrauben, während Sie ohnmächtig sind«, prophezeite er.
»Vermutlich.« Sie gähnte. »Sie sollten schlafen gehen.«
Sie fühlte sich gut in seiner Nähe, ganz warm und weich – wie eine schläfrige Katze.
»Das sollte ich wohl«, meinte Meriden.
»Aber nicht mit mir«, murmelte sie, und ihre Augen fielen zu. »Ich schlafe nämlich nicht mit Ihnen.«
Im nächsten Moment war sie eingeschlummert.
Meriden saß da und war es sehr zufrieden, sie in den Armen zu halten, bis ihr Atem langsamer und tiefer wurde; dann erhob er sich vorsichtig und trug sie in ihr Bett.
Sie bewegte sich kurz, als er sie auf die Matratze legte, streckte aber nur einen Arm aus und glitt wieder ins Traumland. Meriden überlegte, sich einige Stunden zu ihr zu legen – ihm schwebten ein paar großartige Möglichkeiten vor, sie am Morgen zu wecken –, entschied sich aber widerwillig dagegen. Wenn er mit Rowan schlief – und das in nächster Zukunft zu tun, war er fest entschlossen –, sollte sie es wirklich wollen und hellwach sein – und sich seiner und dessen, was sie taten, vollkommen bewusst.
Er zog das Federbett hoch, doch als er ihren Arm unter die Decke stecken wollte, bemerkte er an ihrem Handgelenk etwas Dunkles, das für einen Bluterguss zu schwärzlich war. Er schaltete die Nachttischlampe ein, drehte den Schirm so, dass ihr das Licht nicht ins Gesicht schien, und schob ihren Ärmel hoch.
Das tintige Tattoo eines prächtigen schwarzen Drachen mit roten Augen erstreckte sich auf der Innenseite ihres Unterarms bis zum Ellbogen. Er zog die Decke weg, um sich den anderen Arm anzusehen, auf dem sich ein Spiegelbild des Drachen befand. Im Licht war aber noch etwas zu erkennen: ein schwach blau schimmernder Fleck, den auch die andere Tätowierung aufwies.
Die schwarzen Drachen waren also nicht die ersten Tattoos auf Rowans Armen – darunter lag jeweils ein älteres.
Sie kann doch nicht
… dachte er und setzte sich auf die Bettkante. Sein Gewicht drückte die Matratze nieder, sodass Rowan zu ihm herüberrollte. Rasch erhob er sich und stand lange neben ihr, bevor er sein Handy aus der Tasche zog. Nachdem er ihr Gesicht fotografiert hatte, löschte er das Licht und ging.
Meriden hatte keine Wahl. Er würde sie durch sein Programm jagen müssen.
Er schloss Rowans Tür ab, steckte den Ersatzschlüssel ein, kehrte in seine Wohnung zurück und öffnete die Akte Alana King. Die Arztberichte erneut zu lesen brachte keine überzeugenden Belege, denn die Farbe der Tattoos auf den Unterarmen des Mädchens war darin nicht genannt. Auch als Drachen waren sie nicht beschrieben. Und heutzutage war doch jeder tätowiert, sogar kleine, alte Damen.
Zudem glaubte er nicht, dass Rowan erst sechzehn war. Sie mochte ein junges Gesicht haben, doch ihre Augen gehörten einem älteren Menschen, einer Reisenden, die womöglich schon zu viel von der Welt gesehen hatte. Rowan hatte außerdem nichts von der Verlegenheit eines Mädchens, das gerade durch die Pubertät gegangen ist. Ein Teenager würde sich in seiner Haut kaum so wohlfühlen wie sie.
Und doch bestand die kleine Chance, dass er sich täuschte und die junge Frau, die er finden musste, um sein Leben zu retten, in der Wohnung gegenüber schlief.
Er nahm den Laptop aus dem Schreibtisch, fuhr ihn hoch und öffnete ein Programm zum Erstellen von Phantombildern, das er von einem Gerichtsmediziner gegen Karosseriearbeiten an einem Dodge Charger getauscht hatte, einem Sportwagen, den der Arzt liebevoll restaurierte. Das Programm, das nicht frei zu kaufen war, wurde von Behörden und Organisationen benutzt, die Vermisstenfälle bearbeiteten. Die eingepflegten Fotos konnten virtuell in jede Altersstufe der betreffenden Person transponiert werden, was vor allem dazu diente, Kinder zu identifizieren, die seit Jahren vermisst wurden.
Meriden zog seine
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