Schleier der Traeume
akzeptabel sein.«
»Danke, Chef.« Nachdem er die Hierarchie der Küche, über die Renaud Giusti mit Eisenfaust regierte, zwei Jahre lang zur Genüge erlebt hatte, hütete Nathan Frame sich zu lächeln. »Ob Gisèle vielleicht mit der Zubereitung der
tarte à la crème vaudoise
fortfahren darf?«
Nur wenige Jungköche hatten den Mut, Giusti etwas vorzuschlagen, aber die Erwähnung seiner Tochter entlockte dem alten Meisterkoch ein kleines, bitteres Lächeln. »Ach, jetzt weiß ich es. Giradet hat für Sie gekocht, als Sie in Féchy waren. Niemand bereitet
saumon sauvage juste tiède
zu wie der Papst von Crissier.«
»Niemand«, wiederholte Nathan pflichtgemäß. Sein Lachs war besser – wie beide wussten –, doch das auszusprechen, hätte am Ruhm des inzwischen im Ruhestand lebenden Kochs gekratzt, der weithin als Großmeister der traditionellen französischen Küche galt.
Giusti runzelte die Stirn. »Ich bin mir nicht sicher. Es ist nicht mehr viel Wildlachs da.« Er funkelte Nathan an. »Dieses Gericht darf man nicht mit anderem Fisch zubereiten,
Anglais.
Das wäre ein Verbrechen wider die Natur.«
»Papa. Nathan.« Die Hände in die Hüften gestemmt, trat Gisèle zwischen ihren Vater und ihren amerikanischen Gatten. »Wollt ihr über Fisch und Sauce streiten, bis das Bistro öffnet?«
»Männer!«, rief ihre Mutter vom Hackklotz her, wo sie Lauchblätter um Kräuterbündel wickelte, die als
bouquet garni
mitgekocht wurden. »Natürlich wollen sie das.«
»Was soll ich sonst auftischen, Marie? Pfännchen mit Bauernschwarzbrot?« Giustis dunkle Augen blickten gleich weniger streng, als er ihr hellbraunes Haar mit großer, schwieliger Hand zauste. »Dein Mann muss diese Dinge lernen,
ma douce
, wenn er eines weit entfernten Tages ein echter französischer Koch sein soll.«
»Eines weit entfernten Tages?« Ihre Grübchen traten hervor. »Sicher dauert es nicht so lange, ihm beizubringen, was du weißt, Papa.«
Giusti ächzte. »Einst dachte ich, es würde ewig dauern. Inzwischen …« Er zuckte mit den Achseln und musterte seinen Schwiegersohn. »Geh auf den Markt und kauf Fenchelspitzen für die Lachsemulsion, Nathan.« Er zögerte. »Und Gisèle braucht sicher noch ungesalzene Butter für die
tartes
.«
»Wie Sie meinen, Chef.«
Eine Stunde später schob Nathan sich über den belebten Markt auf dem Cours Saleya. Er beeilte sich nicht; die Einheimischen und Touristen, die sich um die mit gestreiften Markisen überspannten Verkaufsstände, um Cafés und Boutiquen drängten, ließen das nicht zu. Auf den Markt zu gehen, war eine lästige, fast täglich anstehende Aufgabe, die Giusti ihm wahrscheinlich gern aufhalste, doch Nathan störte das nicht. Ohne all das Französisch im Ohr und vor Augen hätte er sich auf die großen Märkte versetzt fühlen können, die um 1900 im alten New York unter freiem Himmel stattgefunden hatten.
Seit seiner Abreise aus Italien war Nathan vorsichtig gewesen. Er war fast zwei Jahre gereist und hatte mehrere Identitäten angenommen und wieder abgelegt und dabei langsam alle Verbindungen zu seiner Vergangenheit getilgt. Als er den Orden verlassen hatte, war ihm klar gewesen, dass seine Ziehväter ihn verfolgen würden; in Rom hätte er seine Ausbildung beenden und sich an ihrem Heiligen Krieg gegen die
Maledicti
beteiligen sollen, und sie konnten nicht zulassen, dass er mit seinem Wissen frei umherlief. Natürlich hatten sie seinen Treuebruch nicht vorhergesehen; schließlich hatte der Orden ihn von Geburt an dazu erzogen, ihm zu dienen.
Der Tag war warm, zu warm für Nathans langärmeliges Hemd. Doch er zeigte sich nie mit nackten Armen in der Öffentlichkeit. Eines nahen Tages müsste er sich die beiden Drachen-Tattoos von den Unterarmen entfernen lassen. Welches Talent sie auch symbolisieren mochten – es hatte sich nie gezeigt. Inzwischen waren die Tätowierungen kaum mehr als Brandzeichen eines Sklaven, anhand derer seine früheren Herren ihn identifizieren konnten.
Noch immer wusste Nathan nicht genau, warum er den Männern, die ihn geschaffen und dazu erzogen hatten, für ihre Sache zu kämpfen, den Rücken gekehrt hatte. Von Geburt an daran gewöhnt, den Orden als seine einzige Familie zu sehen, hatte Nathan das Feuer der Überzeugung empfunden. Sich dem Willen seiner Meister zu unterwerfen, hatte ihn nie mit Zweifel erfüllt. Bis zu seiner letzten Prüfung war er überzeugt gewesen, zu den Brüdern zu gehören, war dann aber mit einem der gefangenen Dämonen
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