Schleier der Traeume
konfrontiert worden, um zu erfahren, wie real das Anliegen des Ordens war.
Der Darkyn war durch Aushungern und Folter geschwächt und leistete kaum Widerstand. Gegen Ende wirkte er beinahe glücklich, sterben zu müssen. Doch als Nathan ihm den Todesstoß hatte versetzen wollen, waren alles Feuer und aller Hass aus ihm gewichen. Mit herabhängendem Schwertarm hatte er über seinem bemitleidenswert schwachen Gegner gestanden und ihm in das verwüstete, einst so schöne Gesicht geschaut.
Der Böse hatte zu ihm hoch gelächelt. »Ich vergebe dir, Junge. Ich vergebe dir.«
Im Gefühl, plötzlich aus lebenslangem Schlafwandeln zu erwachen, war Nathan aus der Zelle zurückgewichen und total entsetzt gewesen. Seiner Feigheit wegen peitschte man ihn aus und steckte ihn wieder in die Ausbildung, wo er aufgrund seines Versagens geschlagen und gefoltert wurde. Etwas in ihm veränderte sich während all der Qualen und Entbehrungen. Er tat, was der Orden von ihm verlangte, wartete und beobachtete, und als die Gelegenheit kam, schlüpfte er leise aus den Katakomben und schlich durch die Stadt, ohne zu wissen, wohin er gehen sollte. Ihm war nur klar, dass er eher sterben als zurückkehren würde.
Er verdiente weder Gisèle noch sein Leben hier, doch nun besaß er beides. Er würde nie wieder eine Nacht damit verbringen, auf Knien zu einem Gott zu beten, der es zuließ, dass es unter den Unschuldigen Dinge wie den Orden oder die
Maledicti
gab. Sollte dies ihn der Verdammnis weihen, würde er gern bis in alle Ewigkeit in der Hölle schmoren.
»Nathan.« Eine schwere Hand klopfte ihm auf die Schulter, und er fuhr zusammen: Hinter ihm stand ein kleiner Kahlkopf mit einem Korb voller
rascasses
. »Du bist früh dran heute, das ist gut. Jacques ist eben mit frischer Fracht aus Lympia gekommen. Sieh mal!« Er schüttelte die Skorpionfische begeistert. »Herrlich, was?«
»Ja, herrlich, Henri.« Er hatte den Geschmack der Bouillabaisse schon auf der Zunge, die er daraus machen würde. »Was sollen die kosten?«
Der Fischhändler strahlte. »Dir mach ich den besten Preis. Komm, schau dir die Seeteufel an, die ich gerade ausgepackt habe. Die sind –« Er schnalzte mit der Zunge.
Ehe Nathan antworten konnte, rief jemand: »Verzeihung, sind Sie Amerikaner? Verzeihung.« Nathan blickte sich um, bis er einen Mann, der wie ein Tourist gekleidet war, winkend auf sich zukommen sah. Der Fremde trug einen Strohhut und eine grellrosa Plastiktasche voller noch schäbigerer Souvenirs.
»Henri, geh an deinen Stand zurück«, sagte Nathan leise und langte dabei in seine Gesäßtasche.
Der Fischhändler zog ein finsteres Gesicht. »
Mon ami
, aber warum –«
»Los.« Er zog das Butterflymesser heraus, das er immer dabeihatte, verbarg es aber in der Hand. »Ich komme gleich.«
Murrend trottete Henri davon und ließ Nathan mit dem Strohhut-Mann allein.
»Echt nett, dass Sie gewartet haben«, sprudelte es aus dem Fremden heraus, während er sich zwischen Spaniern durchschlängelte und etwa einen Meter vor ihm stehen blieb. Die Jacke in seiner freien Hand verdeckte die Schusswaffe, die er auf Nathans Brust gerichtet hielt, doch er sorgte dafür, dass sein Gegenüber sie bemerkte. »In dieser Gegend trifft man ja eher selten auf Amerikaner. Darf ich Sie bitten, etwas beiseitezutreten und sich mit mir zu unterhalten? Ich könnte einen Rat brauchen.« Er rückte näher. »Und wir wollen doch nicht, dass andere in unsere Unterhaltung … verwickelt werden.«
Vier Jahre seines Lebens zerbröselten vor Nathans Augen, doch er hielt sich nicht damit auf, den Ahnungslosen zu spielen. Nur sein Gesicht hatte er nicht verändert, und der Mann, der den Touristen mimte, gehörte zu seinen Ausbildern in den Katakomben und war zudem einer der besten Menschenjäger des Ordens. »Wie haben Sie mich gefunden?«
»Über den Arzt Ihrer hübschen Frau. Nach der letzten Vorsorgeuntersuchung war er recht besorgt und hat in Paris Rat gesucht.« Der Mann bewegte die Jacke nach links. »Wenn Sie mehr wissen möchten, gehen Sie unauffällig zum Parkplatz. Wir wollen schließlich keinen Skandal, Mr
Nathan Frame
.« Er lachte leise. »Sie haben wirklich langweilige Namen benutzt, Dancer. Wie nennt man Sie hier? Nathan?«
»Ich bin nicht mehr Dancer, und ich kehre nicht mit Ihnen zurück.«
»Aber natürlich tust du das, mein Sohn.« Der Mann lächelte breit. »Du bist in Frankreich, nicht in Amerika, vergiss das nicht. Wir haben die Behörden hier in der Hand.« Seine
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