Schleier des Herzens (German Edition)
und Amir gestanden hatte. Und doch pulste ihr Körper imRhythmus mit dem seinen, drängte zu ihm und wollte ihn mit sich ziehen auf diese höhere Ebene der Wahrnehmung, diesen fliegenden Teppich der Sehnsucht ...
Schließlich fanden seine Lippen die ihren, öffneten sie hungrig. Er schmeckte nach Honig und Ingwer, seine Zunge streichelte, erkundete das rosa Fleisch um ihre kleinen, perlweißen Zähne, umspielte ihre Zunge mit zärtlichen Bewegungen.
Beatriz konnte nicht anders, als den Kuss zu erwidern. Sollte es nun also wirklich geschehen? Hier, im ersten Sonnenlicht, in einem Zaubergarten hoch über Granada? Ein Paradies, zu dem Diegos Todesengel keinen Zutritt hatte?
Der Emir drängte sie zu einer Bank an der Balustrade; sie hielten sich an den Händen und sahen Granadas Mauern aufleuchten, fanden sich zu einem erneuten Kuss, tranken die Lippen des anderen.
»Ich will dich sehen, meine Morgensonne, ich will dich ganz sehen.« Amir schob sie etwas von sich weg, öffnete ihr Gewand, wollte ihre Brüste umfassen. Beatriz spähte über seine Schulter in die Weite, sah unter sich die Gärten – und erkannte etwas eigenartig Verkrümmtes zu Füßen der Burgmauer.
»Amir ... Amir hör auf ... Amir, was ist das da?« Beatriz stieß den Emir beiseite, und der dringliche, ernüchterte Klang ihrer Stimme ließ ihn tatsächlich innehalten.
Gemeinsam warfen sie einen Blick über die Brüstung.
»Bei Allah, Beatriz, da liegt ein Mensch. Jemand muss sich von dieser Mauer heruntergestürzt haben ...«
In Amirs Gesicht standen Schmerz und Bedauern, aber seine Vereinigung mit Beatriz würde warten müssen.
»Es tut mir Leid, meine Sonne. Ich hätte den Tag gern mit einer Reise in die höchsten Höhen des Lebens begonnen, aber wie es aussieht, ruft mich der Tod. Ich mussmich um diese Sache kümmern, wir müssen herausfinden, wer das dort unten ist und was hier vorgegangen ist.«
Widerstrebend löste Amir seine Hand aus Beatriz’ Rechter.
»Wirst du da sein, wenn ich zurückkomme?«, fragte er zögernd.
Beatriz schüttelte den Kopf.
»Nein. Sicher nicht.«
Der Tote war schnell identifiziert. Es war Kalim, der Eunuch, der in dieser Nacht zum Wachdienst vor dem Zugang zu den Dienerunterkünften und letztlich zu den Gemächern des Herrn eingeteilt gewesen war. Es gab keine Anzeichen eines Kampfes oder einer anderen Art von Fremdeinwirkung. Wie es aussah, hatte Kalim sich aus freien Stücken in den Tod gestürzt.
Hassan, der Erste Eunuch, befragte halbherzig ein paar Frauen und Diener, schien die Sache dann aber nicht weiter verfolgen zu wollen. Natürlich war der Verlust des jungen Mannes schmerzlich, so beschied er den Emir, aber es sei wichtiger, dass der Harem zur Ruhe käme. Kalim nützte es jetzt schließlich nichts mehr, wenn man die Ursachen seiner Verzweiflungstat ermittelte.
Ayesha und ihre Freundinnen sahen das gänzlich anders. Überhaupt brodelte es im Harem. Beatriz, die Ayesha suchte, um ihr von dem nächtlichen Treffen mit dem Emir zu berichten, passierte lauter Gruppen von aufgeregten, teilweise wild diskutierenden oder hysterisch ängstlichen Frauen und Mädchen. Auch Ayesha und die anderen Musikerinnen sprachen über Kahm, als Beatriz zu ihnen stieß. Bereitwillig machten sie ihr Platz im Kreis.
»Was soll er schon für besondere Gründe gehabt haben? Er war ein Eunuch, ein Haremswächter. Das ist kein allzu erstrebenswertes Schicksal«, bemerkte Katiana, eine dunkelblondeRussin mit hinreißend schönen, schräg stehenden Augen. »Wahrscheinlich hatte er einfach genug davon, die Frauen anderer Männer zu hüten.«
Ein paar der Mädchen lachten halbherzig. Ayesha schüttelte dagegen ernst den Kopf. Anscheinend hatte sie den jungen Diener besser gekannt.
»Kalim wurde mit acht Jahren entmannt«, berichtete sie den anderen. »Nicht hier in Granada, sondern in einem christlichen Land, ich habe vergessen, in welchem. Jedenfalls hatte er einen wunderschönen Knabensopran, und den wollte irgendein gottgefälliger Herr für den Kirchenchor erhalten. Bei einem Piratenüberfall wurde der Junge dann geraubt und hierher nach Granada verkauft. Seitdem diente er im Harem, und wenn man seinen eigenen Angaben Glauben schenken darf, betrachtete er das als das Beste, was ihm je passiert war. Er hatte schon vor Jahren den Islam genommen und stand kurz davor, sich freizukaufen. Ich sehe da keinen Grund für einen Selbstmord.«
»Warum hat man ihn als Haremssklaven und nicht als Sänger verkauft?«, erkundigte sich
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