Schlink,Bernhard
hinauf und hinunter, setzte sich auf die Treppe, stellte die
Reisetasche neben sich und stützte die Arme auf die Knie. Das war seine Welt:
die Straße, die schmucken und die schäbigen Häuser, an der einen Ecke das
italienische Restaurant, in dem er sich mit dem Oboisten traf, an der anderen
Ecke die Straße mit Lebensmittelladen, Zeitungsstand und Fitnesscenter, und
über die Häuser ragte der Turm der Kirche, neben der sein Spanischlehrer
wohnte. Er hatte sich an diese Welt nicht nur gewöhnt. Er liebte sie. Seit er
nach New York gekommen war, hatte er keine dauerhafte Beziehung zu einer Frau
gehabt. Was ihn hielt, waren die Arbeit, die Freunde, die Menschen, die an der
Straße und im Haus lebten, die Routine des Einkaufens, des Trainierens, des
Essens in immer wieder denselben Restaurants. An einem Tag, an dem er morgens
die Zeitung holte und mit Amir, dem Eigentümer des Zeitungsstands, drei Sätze
über das Wetter wechselte, dann die Zeitung in dem Cafe las, in dem man gelernt
hatte, ihm zum Frühstück zwei Eier im Glas mit Schnittlauch und getoastetem
Vollkornbrot zu servieren, dann ein paar Stunden übte, dann die Wohnung putzte
oder Wäsche wusch, dann im Fitnesscenter trainierte, dann Maria etwas
beibrachte und von ihr umarmt wurde, dann beim Italiener Spaghetti Bolognese
aß, dann eine Partie Schach spielte und dann sich schlafen legte, fehlte ihm
nichts.
Er
sah am Haus hoch zu den Fenstern seiner Wohnung. Die Clematis blühte; vielleicht hatte Maria sie tatsächlich gegossen. Er
hatte mit Blumenkästen angefangen, inzwischen standen sie vor mehreren
Fenstern. Ob Maria auch nach dem Eimer geschaut hatte, der die Tropfen aus dem
kaputten Rohr auffing? Er musste sich um die Reparatur kümmern, vor der
Abreise hatte er es nicht mehr geschafft.
Er
stand auf und wollte hochgehen. Aber er setzte sich wieder. Die Post aus dem
Kasten holen, die Treppen hochsteigen, die Tür aufschließen, die Wohnung
lüften, die Reisetasche auspacken, die Post durchsehen und die eine und andere
E-Mail beantworten, dann heiß duschen, die getragenen Sachen in den Wäschekorb
werfen und frische Sachen aus dem Schrank nehmen, dann auf dem Anrufbeantworter
die Frage des Oboisten finden, ob man sich heute Abend sehen wolle, und
zurückrufen und zusagen - wenn er wieder in sein altes Leben träte, würde es
ihn nicht mehr loslassen.
Was
hatte er sich nur gedacht? Dass er sein altes Leben in das Leben mit Susan
mitnehmen könnte? Dass er ein paar Mal in der Woche quer durch die Stadt ins
Fitnesscenter und zum Spanischunterricht fahren würde? Dass er dann zufällig
Maria und den Kids begegnete? Dass der alte Mann aus seinem Haus gelegentlich
ein Taxi nehmen, in die zweistöckige Wohnung an der 5th Avenue fahren und mit
ihm im Salon unter einem echten Gerhard Richter eine Partie spielen würde?
Dass der Oboist sich in einem Restaurant an der East
Side wohl fühlen würde? Er hatte Susan die vielen Seiten
seines Lebens, die er nicht in das gemeinsame Leben mitbringen konnte, mit
Grund verschwiegen. Er hatte sich nicht der Tatsache stellen wollen, dass er
das alte Leben für das neue aufgeben musste.
Na
und? Er liebte Susan. In den Tagen auf dem Cape hatte er sie gehabt und hatte
ihm nichts gefehlt. So würde er sie auch hier haben, und auch hier würde ihm
nichts fehlen. Sie hatten es auf dem Cape doch nicht nur deshalb so schön gehabt,
weil sein Leben weit weg war! Sein Leben konnte sich hier doch nicht zwischen
sie drängen, nur weil es zwei Meilen vom Ort des neuen Lebens als Gestalt
greifbar war!
Doch,
es konnte. Also durfte er nicht hochgehen, sondern musste weg, das alte Leben
hinter sich lassen, zum neuen aufbrechen, hier, jetzt. Ein Hotel finden. In
Susans Wohnung zwischen Malerleitern und Farbeimern kampieren. Jemanden
beauftragen, seine Sachen aus seiner Wohnung zu räumen und ihm zu bringen.
Aber der Gedanke an das Hotelzimmer oder an Susans Wohnung machte ihm Angst,
und er hatte Heimweh, obwohl er noch gar nicht aufgebrochen war.
Wenn
er doch noch mit Susan auf dem Cape wäre! Wenn ihre Wohnung fertig und sie hier
wäre! Wenn der Blitz in sein Haus schlüge und es in Flammen aufginge!
Er
schloss eine Wette mit sich ab. Wenn in den nächsten zehn Minuten jemand ins
Haus ginge, würde er auch ins Haus gehen, wenn nicht, würde er seine
Reisetasche nehmen und in ein Hotel auf der East
Side ziehen. Nach fünfzehn Minuten war niemand ins
Haus gegangen, und er saß immer noch auf der Treppe. Er versuchte es noch
einmal.
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