Schlink,Bernhard
schwer an sein Viertel gewöhnt. Es war laut, und am Anfang hatte
er sich, wenn er auf dem nächtlichen Heimweg an coolen und toughen Kids vorbeikam, die vor den Häusern auf den Stufen saßen
oder an den Geländern lehnten, tranken, rauchten und Musik dröhnen ließen,
auch nicht sicher gefühlt. Manchmal redeten sie ihn an, und er verstand nicht,
was sie von ihm wollten und warum sie ihm herausfordernd entgegensahen und
spöttisch hinterherlachten. Einmal versperrten sie ihm den Weg und wollten
seinen Flötenkasten - er dachte, sie wollten die Flöte stehlen, aber sie
wollten sie nur sehen und hören. Sie stellten die Musik ab, und die plötzliche
Stille machte sie ein bisschen verlegen. Auch er war verlegen und überdies
immer noch ängstlich, und zuerst klang die Flöte dünn, aber dann wurde er
mutiger und lockerer, und die Kids summten die Melodie und klatschten den
Rhythmus mit. Danach trank er ein Bier mit ihnen. Seitdem grüßten sie ihn,
»hey, pipe« oder »hola, flauta«, und er grüßte zurück und lernte allmählich
ihre Namen kennen.
Auch
seine Wohnung war laut. Er hörte, wie seine Nachbarn sich stritten und
schlugen und liebten, und kannte ihre Fernseh- und Radiovorlieben. Eines Nachts
hörte er im Haus einen Schuss und sah im Treppenhaus ein paar Tage lang jeden
misstrauisch an. Wenn ihn ein Nachbar zu einem Fest einlud, versuchte er, die
Personen den Geräuschen zuzuordnen: die Frau mit den dünnen Lippen zur
keifenden Stimme, den Mann mit den Tätowierungen zu den Schlägen, die dralle
Tochter mit ihrem Freund zu den Geräuschen der Liebe. Einmal im Jahr
revanchierte er sich für die Einladungen mit einem eigenen Fest, bei dem sich
die Nachbarn, die einander hassten, ihm zuliebe vertrugen. Nie hatte er wegen
seines Flötenspiels Ärger; er konnte am frühen Morgen und am späten Abend üben
und hätte auch um Mitternacht niemanden gestört. Er schlief immer mit Stöpseln
im Ohr.
Über
die Jahre veränderte sich das Viertel. Junge Paare renovierten
heruntergekommene Häuser und verwandelten leerstehende Geschäfte in
Restaurants. Richard traf Nachbarn, die Ärzte, Anwälte und Banker waren, und
konnte seine Besucher zu einem ordentlichen Abendessen ausführen. Sein Haus
gehörte zu denen, die blieben, wie sie waren; die Erbengemeinschaft, der es
gehörte, war zu zerstritten, um es zu verkaufen oder zu verändern. Aber er
mochte es so. Er mochte die Geräusche. Sie gaben ihm das Gefühl, in der ganzen
Welt zu leben, nicht nur in einer Enklave des Reichtums.
Er
merkte, dass er, als er Susan die nächsten Tage und Wochen beschrieben hatte,
den zweiten Oboisten ausgelassen hatte. Sie trafen sich einmal in der Woche zum
Abendessen beim Italiener an der Ecke, redeten über das Leben als Europäer in
Amerika, berufliche Hoffnungen und Enttäuschungen, Orchestertratsch, Frauen -
der Oboist stammte aus Wien und fand die amerikanischen Frauen ebenso
schwierig, wie Richard sie bislang gefunden hatte. Er hatte auch den alten Mann
ausgelassen, der in seinem Haus unter dem Dach wohnte und abends manchmal auf
eine Partie Schach zu ihm kam und so einfallsreich und tiefsinnig spielte, dass
es Richard nichts ausmachte, immer zu verlieren. Er hatte nicht von Maria
erzählt, einem der Kids von der Straße, die irgendwie an eine Flöte gekommen
war, sich von ihm beim Ansatz und bei den Griffen und beim Notenlesen 1eit en
ließ und ihn zum Abschied umarmte, ihre Lippen auf seine gedrückt, ihren Körper
an seinen gepresst. Er hatte ihr auch nicht vom Spanischunterricht bei dem salvadorianischen
Lehrer im Exil erzählt, der eine Straße weiter wohnte, und nicht von dem
gammeligen Fitnesscenter, in dem er sich wohl fühlte. Er hatte Susan nur die
Orchesterproben und -aufführungen beschrieben, den Flötisten, der ab und zu mit
ihm übte, die Kinder der Tante, die nach dem Krieg mit einem Gl nach New Jersey
ausgewandert war, dass er Spanisch lernte, aber nicht bei wem, und dass er ins
Fitnesscenter ging, aber nicht wo. Er hatte ihr nichts verheimlichen wollen.
Es hatte sich einfach so ergeben.
12
Das
Taxi setzte ihn vor seinem Haus ab. Es war warm, Mütter mit Babys saßen auf
den Stufen, Kinder spielten zwischen den parkenden Autos Versteck, alte Männer
hatten Faltsessel aufgeschlagen und Bierdosen mitgebracht, ein paar Jungs gaben
sich Mühe, wie Männer zu gehen, und ein paar Mädchen sahen ihnen kichernd zu.
»Hola, flauta«, grüßte ihn der Nachbar, »zurück von der Reise?«
Richard
sah die Straße
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