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Schlink,Bernhard

Schlink,Bernhard

Titel: Schlink,Bernhard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sommerlügen
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war es, das sich
in ihm so dagegen sträubte? Dass es nicht die Wahrheit war? Er hatte sich sonst
mit dem Lügen leichtgetan, wenn es galt, einen Konflikt zu vermeiden. Warum
tat er sich jetzt schwer? Weil er sonst die Welt nur ein bisschen gefälliger
machte und jetzt sich selbst schlechter machen sollte, als er war?
    Ihm
kam in den Sinn, wie seine Mutter ihm als kleinem Jungen, wenn er etwas getan
hatte, was er nicht hätte tun sollen, keine Ruhe ließ, bis er die schlechten
Wünsche bekannte, die ihn zur schlechten Tat getrieben hatten. Später las er
über das Ritual von Kritik und Selbstkritik in der Kommunistischen Partei, bei
dem, wer von der Linie der Partei abgewichen war, bearbeitet wurde, bis er
seine bürgerlichen Neigungen bereute - so war das, was seine Mutter mit ihm
gemacht hatte, und so war, was Anne jetzt mit ihm machte. Hatte er in Anne
seine Mutter wieder gesucht und gefunden?
    Also
kein falsches Bekenntnis. Schluss mit Anne. Stritten sie nicht ohnehin zu oft?
Hatte er nicht satt, dass sie ihn anschrie? Satt, dass sie in seinem Laptop und
Telefon und Schreibtisch und Schrank spionierte? Satt, dass sie erwartete, wenn
sie ihn brauche, müsse er für sie da sein? War ihm nicht auch Annes Innigkeit
zu viel? So schön es war, mit ihr zu schlafen - musste es so gefühls- und
bedeutungsschwer sein? Könnte es mit einer anderen leichter, spielerischer,
körperlicher sein? Und die Reisen - am Anfang hatte es seinen Reiz gehabt, im
Frühjahr drei, vier Wochen in einem College im amerikanischen Westen und im
Herbst in einer Universität an der australischen Küste zu verbringen und
dazwischen mehrere Monate in Amsterdam zu leben, jetzt war es ihm eigentlich
lästig. Die Brötchen mit frischem Hering, die es in Amsterdam an Straßenständen
zu kaufen gab, waren lecker. Aber sonst?
    Er
kam an den Grundmauern eines Stalls oder einer Scheune vorbei und setzte sich.
Wie hoch in den Bergen er war! Vor ihm neigte sich ein mit Olivenbäumen
bewachsener Abhang in ein flaches Tal, dahinter lagen niedrige Berge, dahinter
die Ebene mit kleinen Städten, von denen eine Cucuron sein mochte. Ob von hier
bei klarem Wetter das Meer zu sehen war? Er hörte das Zirpen der Zikaden und
das Blöken von Schafen, nach denen er vergebens Ausschau hielt. Die Sonne
stieg und wärmte seine Glieder und ließ den Rosmarin duften.
    Anne.
Was auch immer nicht mit ihr stimmte - wenn sie sich am Nachmittag liebten,
zuerst im hellen Tageslicht und dann noch mal in der Dämmerung, konnten sie
sich nicht satt aneinander sehen und nicht satt aneinander fühlen, und wenn sie
erschöpft und befriedigt beieinanderlagen, machte das Reden sich von selbst.
Und wie gerne er sie schwimmen sah, in einem See oder im Meer, kompakt und
kräftig und geschmeidig wie ein Seeotter. Wie gerne er sie mit Kindern und
Hunden spielen sah, weit- und selbstvergessen, dem Augenblick hingegeben. Wie
glücklich er war, wenn sie sich auf einen Gedanken von ihm einließ und mit
Leichtigkeit und Sicherheit den Punkt fand, an dem er sich verrannt hatte. Wie
stolz er war, wenn er mit ihr unter ihren oder seinen Freunden war und sie mit
ihrem Geist und ihrem Witz funkelte. Wie geborgen er sich fühlte, wenn sie
einander hielten.
    Ihm
fiel ein Bericht über deutsche, japanische und italienische Soldaten in
russischer Kriegsgefangenschaft ein. Die Russen versuchten, die Gefangenen zu
indoktrinieren und mit ihnen auch das Ritual von Kritik und Selbstkritik einzuüben.
Die Deutschen, Führung gewohnt, aber ihrer Führer beraubt, machten beim Ritual
mit, die Japaner ließen sich lieber erschlagen, als mit dem Feind zu
kollaborieren. Die Italiener spielten mit, nahmen aber die Veranstaltung nicht
ernst, sondern bejubelten und beklatschten sie wie eine Opernaufführung. Sollte
auch er bei Annes Kritik- und Selbstkritikveranstaltung mitspielen, ohne sie
ernst zu nehmen? Sollte er lachenden Herzens alles zugeben, was sie zugegeben
haben wollte?
    Aber
mit dem Zugeben würde es nicht getan sein. Sie würde wissen wollen, wie es dazu
kommen konnte. Sie würde nicht ruhen, bis sie herausgefunden hatte, was mit ihm
nicht stimmte. Bis auch er es eingesehen hatte. Und die gewonnenen Einsichten
würden immer wieder zur Erklärung dienen und für Anklagen benutzt werden.
     
    10
     
    Erst
jetzt merkte er, wie weit er gelaufen war und wie lange er auf der Mauer
gesessen hatte. Beim Rückweg erwartete er bei jeder Biegung des Wegs, dahinter
werde die Straße liegen und sein Auto stehen, aber es

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