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Schlink,Bernhard

Schlink,Bernhard

Titel: Schlink,Bernhard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sommerlügen
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kam noch eine Biegung und
noch eine. Als er das Auto schließlich erreichte und auf die Uhr sah, war es
zwölf, und er hatte Hunger.
    Er
fuhr weiter in die Berge und fand im nächsten Dorf ein Restaurant mit Tischen
an der Straße und Blick auf Kirche und Rathaus. Es gab Sandwiches, und er
bestellte eines mit Schinken und eines mit Käse und dazu Wein und Wasser und
Milchkaffee. Die Bedienung war jung und hübsch und hatte keine Eile; gelassen
genoss sie seine Bewunderung und erklärte ihm, was für Schinken sie in der
Metzgerei um die Ecke holen könne und was für Käse sie hatte. Als Erstes
brachte sie den Wein und das Wasser, und bevor die Sandwiches vor ihm lagen,
war er schon ein bisschen betrunken.
    Er
blieb der einzige Gast. Als die Karaffe mit Wein leer war, fragte er, ob sich
im Keller eine Flasche Champagner fände. Sie lachte, sah ihn vergnügt und
verschwörerisch an, und als sie sich vorbeugte und das Geschirr vom Tisch
räumte, zeigte der Ausschnitt ihrer Bluse den Ansatz ihrer Brüste. Er sah ihr
nach und rief: »Bringen Sie zwei Gläser!«
    Sie
lachte gerne. Darüber, dass er aufstand und ihr den Stuhl zurechtrückte. Dass
er den Champagnerkorken knallen ließ. Dass er mit ihr anstieß. Dass er sie so
vorsichtig nach dem Leben als attraktive Frau in einem gottverlassenen Dorf in
den Bergen fragte. Sie half im Sommer ihren Großeltern im Restaurant. Sonst
studierte sie in Marseille Fotografie, reiste viel, hatte in Amerika und Japan
gelebt und schon veröffentlicht. Sie hieß Renee.
    »Von
drei bis fünf mache ich zu.«
    »Machst
du einen Mittagsschlaf?«
    »Das
wäre das erste Mal.«
    »Was
gibt's mittags Schöneres als ...«
    »Ich
wüsste was.« Sie lachte.
    Er
lachte zurück. »Du hast recht - ich auch.«
    Sie
sah auf die Uhr. »Heute schließt das Restaurant bereits um halb drei.«
    »Gut.«
    Sie
standen auf und nahmen den Champagner mit. Er folgte ihr durch den Gastraum und
die Küche. Er war vom Champagner und von der Aussicht auf die Liebe berauscht,
und als Renee vor ihm die dunkle Treppe hochstieg, hätte er ihr gleich hier die
Kleider vom Leib reißen mögen. Aber er hatte die Flasche und die Gläser in den
Händen. Zugleich gingen ihm Anne und ihr Streit durch den Kopf - gab es nicht
ein Prinzip, nach dem man für eine Tat, die man nicht begangen hat, für die man
aber verurteilt wurde, nicht bestraft werden darf, wenn man sie schließlich
doch begeht? Double jeopardy? Anne
hatte ihn für etwas bestraft, das er nicht getan hatte. Jetzt durfte er es tun.
    Auch
im Bett lachte Renee viel. Lachend nahm sie den blutigen Tampon heraus und
legte ihn neben das Bett auf den Boden. Sie machte Liebe mit der Sachlichkeit
und Gewandtheit, mit der man Sport treibt. Erst als sie beide erschöpft
waren, wurde sie zärtlich und mochte ihn küssen und von ihm geküsst werden.
Beim zweiten Mal hielt sie ihn fester als beim ersten, aber als es vorbei war,
sah sie bald auf die Uhr und schickte ihn weg. Es war halb fünf. Ihre Großeltern
würden bald zurück sein. Und er müsse nicht wiederkommen; in drei Tagen sei
ihre Zeit in dem, wie habe er gesagt, gottverlassenen Dorf in den Bergen
vorbei.
    Sie
begleitete ihn an die Treppe. Von unten sah er noch mal hoch: Sie lehnte am
Geländer, und er konnte im Dunkel den Ausdruck ihres Gesichts nicht erkennen.
    »Es
war schön mit dir.«
    »Ja.«
    »Ich
mag dein Lachen.«
    »Mach,
dass du fortkommst.«
     
    11
     
    Er
hätte sich über ein Sommergewitter gefreut, aber der Himmel war blau, und die
Hitze stand in der engen Straße. Als er im Auto saß, sah er einen Mercedes vor
dem Restaurant halten und ein altes Paar aussteigen. Renee trat aus der Tür,
begrüßte die beiden und half ihnen, Lebensmittel ins Haus zu tragen.
    Er
fuhr langsam, um Renee noch ein bisschen im Rückspiegel zu haben. Ihn überkam
eine plötzliche, heftige Sehnsucht nach einem ganz anderen Leben, einem Leben
mit dem Winter in der Stadt am Meer und dem Sommer im Dorf in den Bergen, einem
Leben des stetigen, verlässlichen Rhythmus, in dem man immer wieder dieselben
Strecken fuhr, in demselben Bett schlief, dieselben Leute traf.
    Er
wollte laufen, wo er am Morgen gelaufen war, fand die Stelle aber nicht. Er
hielt an einer anderen Stelle, stieg aus, konnte sich aber nicht zum Laufen
entschließen, sondern setzte sich an die Böschung, riss einen Grashalm ab,
stützte die Arme auf die Knie und nahm den Grashalm zwischen die Zähne. Wieder
sah er über Hänge und niedrige Berge in die Ebene. Seine

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