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Schlink,Bernhard

Schlink,Bernhard

Titel: Schlink,Bernhard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sommerlügen
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aussah. Der Botschafter erzählte mir, was er über den Handel mit
europäischen Frauen im Vorderen Orient wusste. Als ich wieder in Deutschland
war, las ich alles, was ich darüber finden konnte. Früher gab es
Umschlagplätze, wenn Sie's so nennen wollen, wo die geraubten Frauen verkauft
wurden und wo man versuchen konnte, seine Frau wiederzuersteigern. Heute werden
heimlich Videos von den Frauen gemacht, die Interessenten schauen sich die
Videos im Internet an, bieten und bestellen übers Internet. Erst dann wird die
Frau geraubt. Wenn ihr Mann oder Freund oder die Polizei es merkt, sind alle
Spuren längst beseitigt.
    Was
aus den Frauen wird, werden Sie wissen wollen. Wir reden über Spitzenfrauen und
Spitzenpreise. Wenn die Frauen mitspielen, geht es ihnen gut. Wenn sie nicht
mitspielen, wechseln sie ein paarmal die Hände und enden in einem Bordell in
Mombasa.«
    Ich
versuchte, mich in seine Situation zu versetzen. Wie trauert man um die
geliebte Frau, für die man nur hoffen kann, dass sie sich in den Armen eines
anderen wohl fühlt? Die man allenfalls wiederkriegt, wenn nicht einmal mehr ein
betrunkener Matrose in Mombasa sie haben will? Wie lange trauert man? Wie lange
wartet man?
     
    4
     
    »Ein
Jahr später kam der Irakkrieg. Ich dachte nicht, dass er etwas mit mir zu tun
hätte oder ich mit ihm. Aber in Kuwait bekamen die reichen Familien Angst und
zogen weg, nach Los Angeles oder Cannes oder Genf oder wo immer sie Häuser
hatten.
    In
Genf ist sie ihm entkommen. Sie ist aus dem Fenster gestiegen, über den Zaun
geklettert, hat auf der Straße ein Auto angehalten und mich sofort mit dem
Telefon des Fahrers angerufen. Ich habe den nächsten Flug nach Genf genommen.
Weil sie Angst hatte, sie könnte gesucht und gefunden werden, wollte sie nicht
alleine sein, und der Fahrer, ein Student, brachte sie in den Lesesaal der
Universitätsbibliothek. Da saß sie, bis ich kam.
    Kennen
Sie die Genfer Universitätsbibliothek? Ein prächtiger Bau mit einem Lesesaal
wie aus einem Bilderbuch der Jahrhundertwende. Sie saß in der Mitte der ersten
Reihe, auffällig gekleidet, geschminkt, parfümiert. Als ich an ihren Tisch
trat, hielt sie den Kopf gesenkt. Ich berührte ihren Arm, und sie sah auf und
schrie. Dann erkannte sie mich.«
    Aus
dem Cockpit meldete sich der Pilot, kündigte Turbulenzen an und ermahnte uns,
die Sicherheitsgurte anzulegen und festzuziehen. Die Stewardessen gingen durch
die Reihen, prüften, ob die Mahnung des Piloten befolgt wurde, weckten die
Schlafenden, bei denen die Decke den Sicherheitsgurt verbarg, und sammelten
die Gläser ein.
    Mein
Nachbar hörte auf zu reden und verfolgte das Geschehen. »Die meinen es ernst.
Ich habe noch nie erlebt, dass die Stewardessen in der ersten Klasse die
Passagiere wecken.« Er sah mich an. »Haben Sie Angst, wenn es beim Fliegen
gefährlich wird? Oder glauben Sie an Gott? Dass Sie nicht tiefer fallen als in
seine Hand? Ich glaube nicht an Gott. Ich glaube nicht an Gott und weiß nicht,
ob ich noch an die Gerechtigkeit und an die Wahrheit glaube. Ich dachte früher,
wer nicht mehr lange zu leben hat, sagt die Wahrheit. Aber vielleicht sind die,
die nicht mehr lange zu leben haben, die schlimmsten Lügner. Wenn sie sich
jetzt nicht in Szene setzen, wann dann? Die Wahrheit... Was ist die Wahrheit,
auf die der Richter einem keinen Brief und kein Siegel gibt? Und was die Lüge,
auf die er es einem gibt? Was ist die Wahrheit, wenn sie nur durch die Köpfe
vagabundiert und nicht gehörig festgestellt wird?« Er lachte wieder sein
leises, sanftes Lachen. »Entschuldigen Sie, ich bin ein bisschen durcheinander.
Ich habe Angst, wenn es beim Fliegen gefährlich wird, und was gerade geschieht,
riecht nach Gefahr. Aber ich höre auf, wie Pilatus oder Raskolnikow zu reden.
Sie fragen sich sonst, warum Sie mir zuhören sollen.«
    Dann
war es, als packe eine große Hand das Flugzeug und spiele mit ihm. Sie
schüttelte es, ließ es fallen, fing es wieder auf, ließ es wieder fallen.
Meinen Körper hielt der Sicherheitsgurt. Aber meine Organe fühlten sich an,
als hätten sie ihren Platz verloren; ich legte meine Hände auf meinen Bauch und
hielt sie fest. Jenseits des Gangs erbrach eine Frau, vor mir rief ein Mann um
Hilfe, hinter mir fielen Gepäckstücke herunter. Erst als das Flugzeug ruhig
weiterflog, kam die Angst, und sie galt dem, was passiert war, und dem, was noch
passieren mochte. Es war noch nicht vorbei. Das Flugzeug fiel noch mal, und die
Schwerkraft zerrte noch

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