Schlink,Bernhard
Großvater Bauer und ihr Vater Eisenbahner und dass sie eine zupackende
Ärztin war. Ich mochte auch, dass die Verbindung zwischen ihrer Nase und ihrer
Oberlippe aus einer Laune der Natur ein bisschen kurz geraten war und sie den
Mund oft einen kleinen Spalt offen stehen ließ. Sie hatte dabei einen Ausdruck
von verwunschenem Liebreiz, wie ein Kind, das über die Welt staunt. Aber wenn
sie sich konzentrierte und die Lippen schloss, zeigte ihr Gesicht ihre ganze
Entschlossenheit. Ah, und ihr Gang - kennen Sie das Chanson, in dem es heißt: >Elle ne marchepas, eile danse« Er
summte leise eine Melodie.
»Wir
hätten die Einladung des Attaches nicht annehmen sollen. Aber meine Freundin
fuhr gerne in ferne Länder, und ich, der nicht gerne reist... Ist das nicht
verrückt? Ich reise nicht gerne, wäre auch damals lieber nicht gereist und
muss, weil ich damals gereist bin, jetzt um mein Leben reisen. Also ich meinte,
ich schuldete ihr die Reise, und freute mich, dass wir immerhin nicht dumme
Touristen sein, sondern einen Ansprechpartner und eine Anlaufstelle haben
würden. Niemand hat uns gewarnt, warum auch. Wir haben die Einladung
angenommen und sind an Ostern geflogen.
Wir
wohnten im Hotel und nicht in der Anlage von Häusern und Höfen und Gärten, in
denen der Attache mit seinem Clan wohnte. Ich fand schon genug, dass er sich
um uns kümmerte. Wir waren immer mit ihm unterwegs, oft auch mit seinen Brüdern
und Freunden. Wir fuhren in die Wüste, auf die Ölfelder und mit den Fischern
aufs Meer, besichtigten die Universität und das Parlament und wetteten und gewannen
bei Kamelrennen. Es war kein Abenteuer-, sondern ein Reiche-Leute-Urlaub; die
Infrastruktur ist wie in Florida, die Restaurants haben französische Köche,
die Picknicks werden an Tischen mit Tischdecken, Porzellan und Silber
serviert, und wir wurden in großen Autos chauffiert. Es war beeindruckend. Aber
ich war froh, wenn wir abends in unserer Suite waren. Oder wenn wir morgens auf
dem Balkon saßen und die Sonne aufgehen sahen. Ob am Mittelmeer oder an der
Nordsee - wir hatten die Sonne schon oft im Meer versinken, aber noch nie
daraus aufsteigen sehen.«
3
Er
legte mir die Hand auf den Arm. »Sie sind sehr geduldig. Wollen wir einen Roten
trinken? Sie hatten den Bordeaux, aber der Pinot Noir aus dem Russian River Valley ist besser.« Er wartete meine Antwort nicht ab,
klingelte und überredete die Stewardess, uns
die ganze Flasche zu überlassen. Er klang munter, als belebe ihn das Erinnern
und Erzählen.
»An
einem Morgen konnte man uns nicht abholen, und wir wollten eine Taxe nehmen. An
der Auffahrt sprachen uns zwei Herren an, die einen Tisch weiter gefrühstückt
und mit denen wir die Zeitungen getauscht hatten. Ob sie uns in die Stadt
mitnehmen sollten? Wir stiegen ein, meine Freundin vorne, ich hinten, fuhren
los, und an einer roten Ampel bat mich der Fahrer, rasch einen Brief in den
Kasten zu werfen. Warum mich, werden Sie fragen, warum hat er nicht den anderen
Herren gebeten oder ist selbst ausgestiegen. Der andere Herr hinkte, das war
mir gleich aufgefallen, und der Fahrer saß links, und der Kasten war rechts,
fast hätte ich aus dem Fenster reichen und den Brief einwerfen können. Also
stieg ich aus, und die Ampel wurde grün, und das Auto fuhr los. Es gab viel
Verkehr, ich dachte, der Fahrer will ihn nicht aufhalten und fährt ums Quadrat
und kommt gleich wieder.«
Er
redete nicht weiter. Er machte die kleinen Lampen aus, die von der Decke auf
seinen und auf meinen Sitz schienen. Wollte er mich seinen Schmerz nicht sehen
lassen? Ich sagte nichts, fasste seine Hand und drückte sie kurz.
»Ja,
er kam nicht wieder. Ich stand und rief nach einer halben Stunde den Attache
an. Der hat mit dem Minister telefoniert, und der Minister hat sofort die
Polizei losgeschickt und die Straßen gesperrt und die Flughafenkontrollen verstärkt
und die Küstenwache alarmiert. Ich wurde aufs Polizeipräsidium gebracht und
bekam Hunderte von Bildern gezeigt. Ich erkannte keinen der beiden Männer
wieder. Der deutsche Botschafter und seine Frau holten mich ab und nahmen mich
mit in ihre Residenz; sie wollten mich in der Situation nicht alleine lassen.
Alle waren aufmerksam, freundlich, bemüht.
Ich
habe in der ersten Nacht nicht geschlafen. Aber mit dem neuen Tag kommt doch
ein neuer Mut, und ich bin voller Hoffnung aufgestanden. Ich bin auch in den
nächsten Tagen voller Hoffnung aufgestanden. Bis ich mir eingestehen musste, dass
es schlecht
Weitere Kostenlose Bücher