Schlink,Bernhard
mal am Körper und an den Organen.
5
»So
war es, als wir wieder zusammen waren. Es schüttelte uns und zerrte an uns. Es
war wie ein Gift. Manchmal ging es ruhig dahin, aber wir trauten einander
nicht. Wir belauerten einander, bis einer es nicht mehr aushielt. Dann ging es
kalt und schneidend los und wurde laut und grob.«
Er
redete schon wieder? Wovon redete er? »Es schüttelte Sie und zerrte an Ihnen?
Es?«
»So
hat es sich angefühlt. Wie der Sturm, der unser Flugzeug schüttelt. Eine
Macht, die stärker ist als wir. Wir sind uns im Lesesaal in die Arme gefallen,
und ich habe sie die ganze Nacht gehalten, diese erste Nacht und die nächsten
Nächte, und wir sind zusammengezogen, was wir uns davor nicht getraut hatten,
und haben gedacht, alles wird gut. Aber sie hat nicht mit mir schlafen wollen,
und zunächst habe ich gedacht, dass sie traumatisiert ist, wie nach einer Vergewaltigung,
und Zeit und Behutsamkeit und Zärtlichkeit braucht, aber dann habe ich mich
gefragt, ob sie mich noch liebt. War ein Stück ihres Herzens beim Attache
geblieben? War es mit ihm am Ende gar nicht so schlimm gewesen?«
»Mit
dem Attache?«
»Ja,
er hat sie entführen lassen.«
»Der
Attache? Ist er verurteilt worden?«
»Sie
brauchte, damit sie von Genf nach Berlin fliegen konnte, einen vorläufigen
Personalausweis, und wir fuhren zum deutschen Botschafter nach Bern und haben
ihm alles erzählt. Er sprach mit der Schweizer Polizei, die sagte, wir sollten
in Deutschland mit der deutschen Polizei reden. Die deutsche Polizei sagte uns,
sie könne sich nur an die Schweizer Polizei wenden. Niemand wollte politischen
Ärger mit Kuwait. Wir hätten die Medien einschalten können; nach einem Bericht
in der Bild und
einem Interview im Stern hätten die Polizei und das Auswärtige Amt vielleicht etwas
getan. Aber wir wollten uns nicht den Medien ausliefern.«
»Sie
haben Ihre Freundin verdächtigt, obwohl sie...«
»Obwohl
sie geflohen ist?« Er nickte ein paarmal. »Ich verstehe Ihre Frage. Ich habe es
mich selbst immer wieder gefragt. Aber überwältigt werden, genommen werden, benutzt
werden kann seinen sexuellen Reiz haben, für Frauen wie für Männer. Sie hatte
mit ihm geflirtet und er mit ihr. Sie wollte nicht ihr Leben in seinem Harem
verbringen. Also musste sie fliehen. Aber das heißt nicht, dass sie nicht das
sexuelle Erlebnis ihres Lebens mit ihm hatte. Dass sie sich mir verweigert hat
und dass ich sie verdächtigt habe, war auch nicht alles. Sie hat auch mich
verdächtigt. Ich hätte sie mit der Reise nach Kuwait in Gefahr gebracht, und
ich hätte nach der Entführung nicht alles getan, was ich hätte tun können.«
Die
Kabinenbeleuchtung ging an, und die Stewardessen kümmerten sich um das
Erbrochene jenseits des Gangs, den jammernden Passagier vor mir und das
heruntergefallene Gepäck hinter mir. Mein Nachbar redete weiter, aber ich
horchte auf das Brummen der Motoren, das falsch klang, und hörte ihm nicht mehr
zu. Bis ich ihn sagen hörte:
»Aber
sie war tot.«
»Tot?«
»Es
waren nur zwei Stockwerke, und ich dachte, dass sie sich was gebrochen hat, die
Beine, einen Arm. Aber sie war tot. Sie ist mit dem Kopf aufgeschlagen.«
»Wie
...«
»Ich
habe sie gestoßen, aber sie hatte mich geschlagen. Ich wollte sie nur abwehren,
ich wollte mich nicht noch mal schlagen lassen. Ich weiß, ich hätte sie nicht
stoßen sollen. Wir hätten nicht streiten sollen. Aber wir haben damals viel
gestritten, wir haben eigentlich nichts anderes mehr getan. Wir sind auch nicht
das erste Mal körperlich aneinandergeraten. Aber es war das erste Mal auf dem
Balkon, und meine Freundin war groß und das Geländer niedrig. Ich habe noch
nach ihren Armen gegriffen und sie zu halten versucht, aber sie hat meine Hände
weggeschlagen.« Er schüttelte den Kopf. »Ich denke, sie wusste nicht, was ihr
drohte und was sie tat. Aber ich weiß es nicht. Wie, wenn sie lieber sterben
als sich von mir retten lassen wollte?«
6
Ich
fasste wieder seine Hand und drückte sie. Wie soll ein Mensch mit einer solchen
Frage leben? Aber dann klang mir nicht nur das Brummen der Motoren falsch.
»Sagten Sie nicht, Ihre Geschichte sei in allen Zeitungen und auf allen Kanälen
gewesen? Die Medien interessieren sich doch nicht für einen Sturz vom Balkon!«
Er
ließ sich Zeit. »Da war noch die Sache mit dem Geld.«
»Geld?«
»Nun«,
er redete langsam und bekümmert, »der Attache hat ihr erzählt, dass er sie von
mir gekauft hat. Sie hat es
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