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Schlink,Bernhard

Schlink,Bernhard

Titel: Schlink,Bernhard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sommerlügen
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dass mich sein Rauschen vom Morgen bis zum Abend
begleitete, nicht laut und bedrohlich, sondern leise und versöhnlich. Ah, und
die Sonnenuntergänge! Besonders mochte ich die in Rot und Rosa, Gemälde von
verschwenderischer Farbenpracht. Aber berührt haben mich ebenso die
verhaltenen, bei denen die Sonne blass in den Dunst über dem Meer eintaucht und
spurlos verschwindet.«
    Er
lachte leise, ein bisschen ironisch, ein bisschen verlegen. »Ich bin ins
Schwärmen gekommen? Ja, das bin ich wohl. Ich könnte noch viel mehr schwärmen:
von der kräftigen, salzigen Luft und den Gewittern und den Regenbogen über dem
Meer und dem Wein. Und von Debbie, die
schön und blond war und auch nicht durch das Leben ging, sondern durch das
Leben tanzte. Sie war Avas Wiedergängerin, aber während die Wiedergängerinnen,
von denen wir lesen, den Lebenden übelwollen, wollte Debbie mir gut. Sie wohnte eine halbe Stunde weiter, hatte ein Haus
auf dem Berg, ein Pferd und einen Hund und malte Illustrationen für
Kinderbücher. Sie war gut - weil sie ein Gespür für den Augenblick hatte, wie
Kinder es haben? Sie lebte im Augenblick, und ohne sie hätte ich mein letztes
Jahr in Freiheit nicht so genossen, wie ich es genossen habe.«
    »Ihr
letztes Jahr in Freiheit?«
    Er
zeigte mit dem Kopf zum Mann im hellen Anzug. »Nach einem Jahr stand er wieder
an der Einfahrt zu meinem Grundstück. Ich hätte ihn umbringen können - o ja,
ich hatte mir Waffen besorgt und schießen gelernt und traf mit dem Zielfernrohr
auf große Entfernung. Aber dann wäre ein anderer gekommen. Ich dachte,
vielleicht ist der Attache zufrieden, wenn ich in Deutschland vor Gericht
stehe, und akzeptiert das Urteil, wie immer es ausfällt. Vielleicht ist danach
Ruhe.«
    »Sie
wollen sich stellen?«
    »Deshalb
fliege ich nach Deutschland. Wenn es geht, möchte ich nicht gleich bei der
Passkontrolle im Flughafen festgenommen werden. Ich würde gerne zuerst meine
Mutter sehen und mit meinem Verteidiger reden. Es kommt besser an, wenn man
mit dem Verteidiger zum Richter geht und sich stellt, als wenn man von der
Polizei festgenommen und vorgeführt wird. Ich weiß noch nicht, wie...« Er
wandte sich mit seinem leisen, sanften Lächeln an mich. »Wollen Sie mir Ihren
Pass leihen? Wir sehen einander hinreichend ähnlich. Sie sagen, die
Brieftasche sei Ihnen gestohlen worden, und kriegen ein bisschen Ärger, aber
schlimm wird's nicht werden. Das Schlimme, wenn einem die Brieftasche gestohlen
wird, ist, dass man sich alles neu besorgen muss, und darum müssen Sie sich
keine Sorge machen. Nach ein paar Tagen finden Sie die Brieftasche in Ihrer
Post.« Ich sah ihn nur an.
    »Das
kam ein bisschen plötzlich? Tut mir leid. Wie wäre es, wenn wir beide eine
Mütze Schlaf nähmen?« Er sah sich um. »Am Fenster ist noch ein Sessel frei und
einer bei der Garderobe - Sie verstehen, dass ich den am Fenster Ihnen
überlasse und mir den anderen nehme?« Er stand auf. »Gute Nacht. Ich danke
Ihnen für Ihr Zuhören.« Er holte bei der Bar seinen Koffer, nahm Mantel und Hut
von der Garderobe, setzte sich, legte die Beine auf den Koffer, deckte sich
mit dem Mantel zu und zog den Hut übers Gesicht.
     
    11
     
    Ich
trat ans Fenster. Draußen war heller Tag. Die Sonne war rot aufgegangen und
hing jetzt gelb am weißen Himmel. Es ist ein alter Traum von mir, im Sommer
nach Petersburg zu fahren und die weißen Nächte zu erleben. Hier hatte ich
meine weiße Nacht. Aber statt auf Wasser, Brücken, flanierende Menschen und
verliebte Paare sah ich auf leere Rollbahnen, dunkle Anlegefinger und
Betonbauten. Kein Flugzeug, kein Auto, kein Mensch war unterwegs.
    In
der Lounge war es ruhig geworden. Niemand sah fern, niemand trank an der Bar,
niemand redete. Manche hatten den Computer aufgeschlagen, manche ein Buch.
Viele versuchten zu schlafen, einige hatten sich auf dem Boden ausgestreckt.
Ich ging an den Schalter am Eingang und fragte, wie es um den Weiterflug stehe.
Die junge Frau hatte gehört, in Frankfurt werde ein Flugzeug bereitgestellt.
Vor acht werde es nicht da sein, vier Stunden dauere es bis zum Weiterflug
sicher noch.
    Ich
ging zurück, zog den freien Sessel aus dem Licht des Fensters in den Schatten
der Wand und setzte mich. Hier konnte mich der Mann im hellen Anzug nicht mehr
sehen. Davor hatte er, wann immer ich zu ihm sah, seine Augen auf mich
gerichtet.
    Es
ist wohl an der Zeit, dass ich mich vorstelle. Mein Name ist Jakob Saltin, ich
habe Physik studiert, mich auf

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