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Schlink,Bernhard

Schlink,Bernhard

Titel: Schlink,Bernhard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sommerlügen
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Gefühl, etwas geschafft zu haben. Ich stellte
mir meinen Nachbarn vor, wie er mit meinem Pass durch die Kontrolle ging, wie
er bei seiner Mutter klingelte, sie in die Arme nahm und mit ihr Tee trank und
wie er mit seinem Verteidiger redete und zum Richter ging.
     
    14
     
    Am
nächsten Morgen ging mein Leben weiter. In den letzten Wochen des Semesters ist
besonders viel zu tun; zu den Vorlesungen und Seminaren und Sitzungen kommen
noch Prüfungen, und überdies holte ich nach, was ich wegen der Konferenz in
New York hatte ausfallen lassen. Ich hatte keine Zeit, an meinen Nachbarn und
seine Geschichte zu denken. Ja, er war ein interessanter Zeitgenosse und seine
Geschichte eine interessante Geschichte. Aber das Ganze war die Sache einer
Nacht gewesen, einer durch den Verlust von sechs Stunden auf dem Flug von West
nach Ost erheblich verkürzten, durch den Aufenthalt in Reykjavik wieder ein
bisschen verlängerten, aber insgesamt doch kurzen Nacht.
    Nach
einer Woche kam meine Brieftasche mit der Post. Ich war nicht erstaunt, ich
hatte mich auf meinen Nachbarn verlassen. Aber ich war erleichtert; die ec -
und die Kreditkarten hatten mir manchmal gefehlt.
    Die
Nachricht, die mein Nachbar mir in die linke Innentasche meiner Jacke gesteckt
hatte, fand ich erst Wochen später. »Ich hätte Ihre Brieftasche lieber nicht
genommen. Sie waren ein wunderbarer Gefährte. Aber ich brauche Ihre Brieftasche,
und Sie brauchen nicht das Problem, ob Sie meine Bitte erfüllen oder abschlagen
sollen. - Mögen Sie mich im Gefängnis besuchen?«
    Da
hatten die Zeitungen schon gebracht, dass er sich gestellt hatte und der
Prozess bald fortgesetzt würde. Als sie über den Prozess berichteten, erwähnten
sie auch die alte Dame, die gesehen haben wollte, dass mein Nachbar seine
Freundin nicht nur geschubst, sondern über das Geländer gezwungen hatte. Sie
war nicht vor Gericht erschienen; wenige Tage bevor mein Nachbar sich gestellt
hatte, war sie verschwunden. Aber ihre Aussage vor der Polizei wurde verlesen.
Ich hätte gedacht, dass eine von der Polizei hieb- und stichfest protokollierte
Aussage für den Angeklagten gefährlicher sei als eine Aussage vor Gericht, die
der Verteidiger zerpflücken kann. Aber das Gegenteil stimmt. Einen Zeugen oder
eine Zeugin auseinanderzunehmen ist schwieriger, als einem Polizisten
vorzuwerfen, er habe dieses und jenes nicht gefragt und daher eine einseitige
und wertlose Aussage bekommen und protokolliert.
    Sie
war verschwunden, wenige Tage bevor mein Nachbar sich gestellt hatte. Mir war
das nicht recht. Hatte er... Nein, ich konnte es mir nicht vorstellen. Es gibt
so viele Gründe, aus denen ein alter Mensch plötzlich verschwindet. Er kann auf
einer Wanderung zu nahe an einen Abgrund geraten und hinunterstürzen, sich
verlaufen und erschöpft niederlegen, in der Ferienwohnung einen Herzinfarkt bekommen
und über Monate und Jahre nicht gefunden werden. Solche Sachen kommen immer
wieder vor.
    Mein
Nachbar bekam acht Jahre - manchen Kommentatoren erschien die Strafe zu hoch
und anderen zu niedrig.
    Das
Gericht hatte ihm die fahrlässige Tötung nicht abgenommen, ihn aber auch nicht
wegen Mords verurteilt, sondern wegen Totschlags in der Erregung einer
quälenden, schon länger andauernden, sich plötzlich zuspitzenden Auseinandersetzung.
    Ich
will mich nicht einmischen. Mein Metier ist der Verkehr, nicht das Strafrecht.
Ich beurteile, wie der Verkehr einer Stadt vor dem Infarkt zu retten ist. Ob
jemand schuldig ist, entscheiden die Richter, die tagein, tagaus nichts anderes
tun.
    Aber
überzeugt hat mich das Urteil nicht. Eigentlich hat es seine Richtigkeit, dass,
wer ein fremdes Leben nimmt, das eigene gibt. Ihn ein Leben lang einzusperren
macht keinen Sinn. Was hat das Leben in der Zelle mit dem Leben zu tun, das
nicht mehr ist? Weil es Fehlurteile gibt, darf es keine Todesstrafe geben, ich
weiß. Aber acht Jahre? Es war eine lächerliche Strafe. Wer so straft, traut
seinem eigenen Urteil nicht. Wer so straft, sollte lieber freisprechen.
    Ich
habe daran gedacht, meinen Nachbarn im Gefängnis zu besuchen. Aber ich tue mich
schon mit Besuchen im Krankenhaus schwer. Wenn der Kranke mir leidtut, finde
ich doch nicht die richtigen Worte, und wenn er mir nicht leidtut, finde ich
sie erst recht nicht. Gute Besserung - das ist nie falsch. Was wünscht man dem
Gefangenen?
     
    15
     
    Nach
fünf Jahren stand er bei mir vor der Tür. Es war wieder Sommer, ein warmer
später Nachmittag. Ich nahm ihm die Tasche ab,

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