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Schlink,Bernhard

Schlink,Bernhard

Titel: Schlink,Bernhard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sommerlügen
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in fremder Leute persönliche Probleme hineingezogen werden. Ich habe
genug damit zu tun, die Probleme des Verkehrs zu lösen. Sie verlangen meinen
ganzen Einsatz, und sie sind den Einsatz wert; würden sie gelöst, wäre die
Welt ein besserer Ort. Ich bin stolz darauf, dass ich für Mexiko ein
Verkehrskonzept entwickelt habe, das den Verkehr, der Tag um Tag stockte,
wieder zum Fließen und die Stadt, die erstickte, wieder zum Atmen gebracht hat.
Oder doch hätte bringen können, wenn die Politiker das Verkehrskonzept richtig
umgesetzt hätten.
    Aber
mein Nachbar war kein Fremder mehr. Ich hatte im Dunkel neben ihm gesessen, mit
ihm eine Flasche Pinot Noir geleert, seine Geschichte angehört, ihn belebt und
bewegt und verstört gesehen, seine Hand gedrückt und ihm meine Hand auf den
Rücken gelegt. Ich war entschlossen, ihm meinen Pass zu geben.
    Aber
er kam auf seine Bitte nicht zurück, und ich dränge mich nicht auf. Wir saßen
auf dem oberen Deck in der letzten Reihe, und als das Flugzeug in Frankfurt
seine Parkposition am Anlegefinger erreicht hatte, waren wir als Erste im
unteren Deck und an der Tür. Als das Signal zum Öffnen gegeben wurde, umarmte
er mich. Ich kann der heutigen Umarmungs- und Küsschen-Küsschen-Kultur
eigentlich nichts abgewinnen. Aber ich erwiderte seine Umarmung; zwei Männer
waren sich begegnet, zwei Fremde in der Nacht, hatten miteinander geredet,
hatten einander nicht alles gegeben, was sie einander hätten geben können, aber
waren einander nahegekommen. Vielleicht erwiderte ich die Umarmung auch besonders
herzlich, weil ich Champagner getrunken hatte und ein bisschen beschwipst war.
    Dann
wurde die Tür geöffnet, und mein Nachbar rollte seinen Koffer nicht, sondern
nahm ihn auf und rannte los. Im Flughafengebäude sah ich ihn nicht mehr. Ich
sah ihn auch nicht an der Passkontrolle. Er war weg.
     
    13
     
    Mit
meinem Pass. Als ich an der Passkontrolle nach der Brieftasche griff, war sie
nicht da. Ich habe nicht weitergesucht; meine Brieftasche hat ihren Platz in
der linken Innentasche, und wenn sie da nicht ist, ist sie nicht da. Ich weiß,
wo meine Sachen sind.
    Während
des Flugs war meine wie seine Jacke in Verwahrung der Stewardess gewesen; mein
Nachbar musste die Stewardess irgendwann um seine Jacke gebeten, aber meine
Sitznummer angegeben, meine Jacke ausgehändigt bekommen und die Brieftasche
herausgenommen haben. Er wollte nicht riskieren, dass ich seine Bitte
abschlagen würde.
    Die
Polizei war freundlich. Ich sagte, dass ich den Pass in New York vorgezeigt und
seitdem nicht mehr benutzt hätte. Dass ich keine Ahnung hätte, wo ich die
Brieftasche verloren oder wo man sie mir gestohlen haben könnte. Ein Polizist
begleitete mich zurück zum Flugzeug, aus dem die Passagiere noch ausstiegen,
und ich suchte meine Brieftasche vergebens beim Sitz, in den Ablagen und im
Kleiderschrank der Stewardessen. Danach wurde ich auf die Wache gebeten. Zum
Glück ist mein Bild auf der Webseite der Universität und war das Büro des
Dekans besetzt; es bestätigte, dass es mit mir seine Richtigkeit hat.
    Ich
nahm eine Taxe. Erst als wir in Darmstadt, aber noch nicht bei mir zu Hause
waren, dachte ich daran, dass ich bei mir nur das Geld hatte, das ich lose in
der Tasche trug, viel zu wenig für die lange Fahrt. Ich sagte es dem Fahrer und
sagte ihm auch, dass ich zu Hause ausreichend Geld hätte. Aber er traute mir
nicht, ließ sich geben, was ich hatte, und warf mich unter Gejammere und
Geschimpfe aus dem Wagen.
    Es
war sehr warm, aber nicht schwül. Nach der Nacht und dem Morgen in Flugzeugen
und Lounges, in der Polizeiwache und Taxe fand ich die Luft belebend, obwohl
es nur die Darmstädter Stadtluft war, die an der roten Ampel nach Benzin und
vor dem türkischen Imbiss nach heißem Fett roch. Mit jedem Schritt ging es mir
besser; ich war beflügelt vom Gefühl, etwas geschafft zu haben. Was? Ich konnte
es nicht sagen. Aber das machte nichts.
    Was
ich nicht sagen konnte, wollte auch niemand wissen. Es wäre anders gewesen,
wenn meine Frau zu Hause auf mich gewartet oder wenn ich gewusst hätte, dass
meine Tochter mich am Abend anrufen und willkommen heißen und nach meinen
Erlebnissen auf der Reise fragen würde.
    Am
frühen Nachmittag war ich zu Hause. Mein kleines Haus hat einen kleinen Garten.
Ich schlug den Liegestuhl auf und legte mich hinein. Ich stand noch mal auf und
holte eine Flasche Wein und ein Glas. Ich trank und schlief ein und wachte auf,
und immer noch hatte ich das gute

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