Schlink,Bernhard
Verkehrsströmungslehre spezialisiert und leite
das Institut für Verkehrswissenschaft an der Universität Darmstadt. Wie viele
Züge brauchen wie viele Gleise, wie viele Autos wie viele Spuren? Wie werden
Staus verursacht und wie vermieden? Wo müssen Ampeln stehen, und wo dürfen sie
nicht stehen? Wie werden sie optimal geschaltet? Es ist eine faszinierende
Wissenschaft. Aber sie ist nüchtern wie alle Wissenschaft, und ich bin es
auch.
Ich
lese keine schöne Literatur mehr - wann sollte ich die Zeit dazu finden? Aber
Vorjahren habe ich eine Geschichte gelesen, in der ein Reisender einem anderen
Reisenden erzählt, dass er seine Frau umgebracht hat. Sie hatte einen
Liebhaber - hat er ihn auch umgebracht? Jedenfalls hat er aus Leidenschaft und
Verzweiflung gehandelt, ihm waren die Musik und der Alkohol zu Kopf gestiegen.
Mit dem Alkohol bin ich mir nicht sicher, aber mit der Musik. Wenn ich mich
recht erinnere, hat der eine Reisende dem anderen nur zugehört. Der andere bat
ihn um nichts gebeten.
Mein
Nachbar hatte seine Geschichte an mir ausprobiert.
Er
musste sie demnächst der Polizei, dem Staatsanwalt und dem Richter erzählen und
wollte wissen, wie sie ankam. Was für eine Figur er in ihr machte. Was er
auslassen und was er ausschmücken musste. Hatte er gerade mich als Zuhörer gewählt,
weil wir einander in Gestalt, Gesicht und Alter tatsächlich einigermaßen ähneln?
Hatte er mich von Anfang an um meinen Pass bitten wollen? Und mich mit seiner
Geschichte so berühren, dass ich ihm die Bitte nicht abschlagen konnte?
Aber
nein, der Flug war ausgebucht; er hatte sich den Sitz nicht aussuchen können
und mich als Zuhörer auch nicht. Warum war ich so misstrauisch? Die Russenmafia
ist nicht seine Welt, hatte er gesagt - diplomatische Empfänge in Berlin,
Picknicks in der kuwaitischen Wüste, teure Häuser an der Küste Afrikas und
Amerikas und Spekulationen mit Frauen, Kamelen und Millionen sind nicht meine.
Er wusste nicht, wie off er schon um die Welt geflogen war - ich war noch nie
um die Welt geflogen und wäre nicht in der ersten Klasse gesessen, wenn nicht
die Business-Klasse überbucht gewesen wäre und ich ein Upgrade bekommen hätte.
Für die Welt, aus der mein Nachbar mir erzählt hatte, habe ich kein Gespür.
Hatte ich es für meinen Nachbarn? Hatte er seine Freundin ermordet?
Für
uns Verkehrswissenschaftler sind Unfälle Parameter unter anderen. Ich bin nicht
zynisch, aber ich bin auch nicht sentimental. Ich weiß, dass es Unfälle auch
bei der Gattung Mensch gibt. Es gibt Menschen, in denen nichts steckt als die
Gier nach dem schnellen Geld und dem leichten Leben. Ich kenne sie als
Studenten und als Kollegen, in der Wirtschaft und in der Politik. Nein, mein
Nachbar gehörte nicht dazu.
Er
suchte nicht das leichte Leben, sondern das schöne. Er gierte nicht nach Geld,
er spielte damit.
Oder
bestand zwischen beidem kein Unterschied? Das Schwierige im Leben ist zu
wissen, wann man an seinen Prinzipien festhalten muss und wann man ab- und
zugeben darf. Ich weiß es in meinem Metier. Aber sonst?
Dann
schlief ich ein. Ich schlief nicht tief; ich hörte, wenn ein Koffer umfiel,
wenn ein Handy laut klingelte und wenn jemand die Stimme hob. Um halb acht
informierte uns der Lautsprecher, dass in einer Stunde ein Flugzeug landen und
uns nach Frankfurt bringen werde. Am Büfett gebe es Frühstück.
Mein
Nachbar kam zu mir. »Wollen wir?« Wir gingen zum Büfett, nahmen Kaffee und Tee, Croissants und
Joghurt und setzten uns an einen Tisch. »Sie konnten schlafen?« Wir hatten
eine höfliche Konversation über das Schlafen auf Reisen und die Qualität von
Flugzeugsitzen und Sesseln in Lounges.
Als
wir aufgefordert wurden, zum Flugzeug zu gehen, gingen wir zusammen los. Auf
den Gängen waren Menschen unterwegs, die Läden hatten geöffnet, und auf den
Tafeln und über die Lautsprecher wurden Ankünfte und Abflüge mitgeteilt. Der
Flughafen war aufgewacht.
12
Auch
beim Flug von Reykjavik nach Frankfurt saßen wir nebeneinander. Wir redeten
nicht mehr viel. Er fragte mich nach Frau und Kindern. Ich bin wortkarg, wenn
es um meine Frau geht, die gestorben ist, und um meine Tochter, die mich
verlassen hat. Dass meine Frau noch am Leben und meine Tochter noch bei mir
wäre, wenn ich beiden mehr gegeben hätte - wie sollte ich davon erzählen?
Vielleicht stimmt es auch nicht und mache ich mir unnötige Vorwürfe.
Ich
wartete, ob er mich noch mal um meinen Pass bitten würde. Eigentlich mag ich
nicht
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