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Schlink,Bernhard

Schlink,Bernhard

Titel: Schlink,Bernhard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sommerlügen
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Bahnsteig,
drängte sich in einen Wagen, konnte sich nicht rühren und die Zeitung nicht
umblättern und drängte sich nach zwanzig Minuten aus dem Wagen. Am Abend fand
er in der U-Bahn einen Sitzplatz, las die Zeitung zu Ende und erledigte in der
Nachbarschaft seiner Wohnung Besorgungen. Er konnte zu Fuß ins Kino und in die
Oper gehen.
    Dass
er in der Universität nicht ganz dazugehörte, störte ihn nicht. Die Kollegen
hatten mit ihm nicht zu besprechen, was sie untereinander zu besprechen hatten,
und die Studenten nahmen ihn, dem sie nur ein Semester lang begegneten, nicht
so ernst wie die Professoren, mit denen sie Jahr um Jahr zu tun hatten. Aber
die Kollegen waren freundlich und die Studenten aufmerksam, sein Unterricht war
ein Erfolg, und aus dem Fenster seines Büros hatte er den Blick auf eine
gotische Kirche aus rotem Sandstein.
    Ja,
er hatte sich gefreut, schon vor dem Aufbruch und auch noch nach der Rückkehr.
Aber eigentlich war er dort unglücklich. Sein erstes Semester in New York war
das erste Semester, in dem er an seiner deutschen Universität nicht
unterrichten musste - er hätte gerne diese Freiheit genossen, statt wieder zu
unterrichten. Seine Wohnung in New York war düster, und im Hof lärmte die
Klimaanlage so laut, dass er sich Stöpsel in die Ohren stecken musste, um
schlafen zu können. An vielen Abenden, an denen er alleine in billigen
Restaurants aß oder schlechte Filme sah, fühlte er sich einsam. In seinem Büro
blies die Klimaanlage trockene Luff in
sein Gesicht, bis seine Nebenhöhlen eiterten und er sich operieren lassen
musste. Die Operation war furchtbar, und als er aus der Narkose aufwachte, fand
er sich nicht in einem Krankenbett, sondern auf einem Liegestuhl in einem Raum
mit anderen Patienten in Liegestühlen und wurde wenig später mit schmerzendem
Kopf und blutender Nase nach Hause entlassen.
    Er
hatte sich das Unglück nicht eingestanden. Er wollte glücklich sein. Er wollte
glücklich sein, weil er es aus der kleinen deutschen Universitätsstadt ins
große New York geschafft hatte und dort dazugehörte. Er wollte glücklich sein,
weil er sich dieses Glück so sehr gewünscht hatte und es jetzt da war - oder
doch alles, was er sich als dessen Zutaten immer vorgestellt hatte. Manchmal
ließ sich leise eine innere Stimme vernehmen, die Zweifel am Glück anmeldete.
Aber er brachte sie zum Verstummen. Schon als Kind, Schüler und Student litt
er, wenn er zu einer Reise aufbrach und seine Welt und seine Freunde verlassen
musste. Was hätte er versäumt, wenn er damals immer zu Hause geblieben wäre!
Also sagte er sich in New York, es sei eben sein Schicksal, Zweifel überwinden
zu müssen, um das Glück da zu finden, wo es zunächst nicht zu sein schien.
     
    2
     
    Auch
in diesem Sommer kam wieder eine Einladung nach New York. Er nahm den Umschlag
aus dem Briefkasten und öffnete ihn auf dem Weg zu der Bank, auf der er morgens
seine Post las. Die New Yorker Universität, der er jetzt seit fünfundzwanzig
Jahren verbunden war, lud ihn zur Veranstaltung eines Seminars im nächsten
Frühling ein.
    Die
Bank stand am See, auf dem Teil des Grundstücks, der durch eine kleine Straße
vom Rest des Grundstücks und dem Haus getrennt war. Als sie das Haus gekauft
hatten, hatten seine Frau und die Kinder die Straße als störend empfunden. Sie
hatten sich daran gewöhnt. Er hatte von Anfang an gemocht, dass da ein eigenes
kleines Reich war, zu dem er eine Tür auf- und zumachen konnte. Als er erbte,
ließ er das alte Bootshaus herrichten und den Dachstuhl ausbauen. In vielen
Sommern hatte er dort gearbeitet. Aber in diesem Sommer saß er lieber auf der
Bank. Sie war sein Versteck, vom Bootshaus und -steg, wo sich die Enkel gerne
tummelten, nicht zu sehen. Wenn sie weit hinausschwammen, sahen sie ihn und
sah er sie, und sie winkten einander.
    Er
würde im nächsten Frühling nicht in New York lehren. Er würde nie mehr in New
York lehren. Sein Leben in New York, über die Jahre ein so selbstverständlicher
Bestandteil seines Lebens geworden, dass er sich schon lange nicht mehr fragte,
ob er dort glücklich oder unglücklich sei, war vorbei. Weil es vorbei war,
gingen seine Gedanken zum ersten Semester dort zurück.
    Sich
einzugestehen, dass er damals in New York unglücklich war, wäre nicht schlimm,
wenn es nicht zum nächsten Eingeständnis führte. Als er aus New York zurückkam,
lernte er bei einem Unfall eine Frau kennen; sie stießen mit den Fahrrädern
zusammen, als sie beide

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