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Schlink,Bernhard

Schlink,Bernhard

Titel: Schlink,Bernhard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sommerlügen
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jüngste Sohn seiner Tochter, der
jüngste seiner fünf Enkel, ein stämmiger Fünfjähriger mit blondem Schopf und
blauen Augen. »Das Frühstück ist fertig.« Als Matthias das Boot mit seinem Bruder
und seiner Cousine sah, rief er sie wieder und wieder und hüpfte auf dem Steg
hin und her, bis sie anlegten. »Machen wir ein Wettrennen?« Die Kinder rannten
los, und er folgte ihnen langsam. Vor einem Jahr hätte er noch mitgemacht, vor
ein paar Jahren noch gewonnen. Aber sie vor sich den Hang hinaufrennen und
dann die großen Kinder zurückfallen sehen, weil sie das kleine gewinnen lassen
wollten, war schöner als mitmachen. Ja, so hatte er sich den letzten
gemeinsamen Sommer vorgestellt.
    Er
hatte sich auch vorgestellt, wie er gehen würde. Ein befreundeter Arzt und
Kollege hatte ihm den Cocktail besorgt, den die Organisationen der Sterbehilfe
ihren Mitgliedern geben. Cocktail - ihm gefiel die Bezeichnung. Er hatte nie
Lust auf Cocktails gehabt und nie einen versucht; sein erster würde auch sein
letzter sein. Ihm gefiel auch die Bezeichnung »Sterbeengel« für das Mitglied
der Organisation, das dem sterbebereiten Mitglied den Cocktail bringt; er würde
sein eigener Sterbeengel sein. Ohne jedes Aufheben würde er, wenn es so weit
war, beim abendlichen Zusammensein im Wohnzimmer aufstehen, rausgehen, den
Cocktail trinken, die Flasche auswaschen und wegräumen und sich im Wohnzimmer
wieder dazusetzen. Er würde zuhören, einschlafen und sterben, man würde ihn
schlafen lassen und am nächsten Morgen tot finden, und der Arzt würde
Herzversagen feststellen. Ein schmerzloser und friedlicher Tod für ihn, ein
schmerzloser und friedlicher Abschied für die anderen.
    Noch
war es nicht so weit. Im Esszimmer war gedeckt. Er hatte zu Beginn des Sommers
den Tisch ausgezogen und sich vorgestellt, am Kopf würden er und seine Frau
sitzen, neben ihm die Tochter mit Mann, neben seiner Frau der Sohn mit Frau und
am Ende die fünf Enkel und Enkelinnen. Aber die anderen gewannen dieser Ordnung
nichts ab und setzten sich, wie es sich gerade ergab. Heute war nur noch der
Platz zwischen seiner Schwiegertochter und ihrem sechsjährigen Sohn frei,
Ferdinand, der sichtbar schmollend von seiner Mutter weggerückt war. »Was ist
los?« Aber Ferdinand schüttelte wortlos den Kopf.
    Er
liebte seine Kinder, Schwiegerkinder und Enkelkinder. Er hatte sie gerne um
sich, ihre Geschäftigkeit, ihr Reden und Spielen, sogar ihr Lärmen und
Streiten. Am liebsten saß er in der Ecke des Sofas und hing seinen Gedanken
nach, unter ihnen und zugleich für sich. Er arbeitete auch gerne in
Bibliotheken und Cafes; er konnte sich gut konzentrieren, wenn um ihn herum mit
Papier geraschelt, geredet und gelaufen wurde. Manchmal spielte er mit, wenn
die anderen Boccia spielten, gesellte sich mit der Flöte dazu, wenn sie
musizierten, nahm mit einer Bemerkung an ihrem Gespräch teil. Sie reagierten
überrascht, und er war selbst überrascht, wenn er sich mit ihnen beim Spiel,
bei der Musik oder im Gespräch fand.
    Er
liebte auch seine Frau. »Natürlich liebe ich meine Frau«, hätte er gesagt, wenn
jemand ihn gefragt hätte. Es war schön, wenn er in der Ecke des Sofas saß und
sie sich zu ihm setzte. Noch schöner fand er, sie im Kreis der anderen zu
sehen. Unter den Jungen wurde sie jung, als sei sie wieder die Studentin aus
dem ersten Semester, die er kennenlernte, als er bereits Examen machte. Sie war
ohne Raffinement und ohne Arg, sie hatte nichts von dem, was an Helena begehrenswert
und abstoßend war. Ihm war damals, als reinige ihn die Liebe zu ihr von der
Erfahrung des Benutzens und Benutzt-Werdens, die von der Beziehung mit Helena
geblieben war. Sie heirateten, als auch sie die Ausbildung abgeschlossen hatte
und Lehrerin wurde. Die beiden Kinder kamen schnell, und seine Frau ging bald
mit halbem Deputat wieder in die Schule. Sie schaffte alles mit leichter Hand:
die Kinder, die Schule, die Wohnung in der Stadt und das Haus auf dem Land,
gelegentlich ein Semester mit ihm und den Kindern in New York.
    Nein,
sagte er sich, er musste sich nicht scheuen, über das Glück seiner Ehe und
seiner Familie nachzudenken. Es stimmte. Auch die ersten Tage des gemeinsamen
Sommers hatten gestimmt; die Enkelkinder beschäftigten sich miteinander, die
Kinder und Schwiegerkinder genossen die Zeit für sich, und seine Frau arbeitete
glücklich im Garten. Der vierzehnjährige David war in die dreizehnjährige Meike
verliebt - er sah es, die anderen schienen es nicht zu

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