Schloss aus Glas
Schneedecke. Erma verbot uns, den Ofen anzumachen -sie sagte, wir könnten nicht damit umgehen und würden das ganze Haus abfackeln -, und im Keller wurde es so kalt, dass Lori, Brian, Maureen und ich froh waren, zusammen in einem Bett zu schlafen. Sobald wir von der Schule nach Hause kamen, kletterten wir in unseren Sachen ins Bett und machten dort unsere Hausaufgaben.
An dem Abend, als Mom und Dad zurückkamen, waren wir im Bett. Wir hörten kein Auto vor dem Haus halten. Wir hörten bloß, wie oben die Haustür aufging, dann die Stimmen von Mom und Dad und dann Erma, die eine lange Tirade von Vorwürfen gegen uns Kinder vom Stapel ließ. Gleich darauf hörten wir Dads Schritte auf der Kellertreppe. Dad war auf uns alle wütend, auf mich, weil ich Erma Widerworte gegeben und absurde Anschuldigungen gegen sie erhoben hatte. Auf Lori war er noch wütender, weil sie es gewagt hatte, ihre
eigene Großmutter zu schlagen, und auf Brian, weil er so ein Jammerlappen war und das Ganze ausgelöst hatte. Ich dachte, Dad würde für uns Partei ergreifen, sobald er gehört hätte, was wirklich passiert war, und wollte ihm alles erklären.
»Es interessiert mich nicht, was passiert ist«, schrie er.
»Aber wir haben uns nur verteidigt«, sagte ich.
»Brian ist ein Mann, er verkraftet das«, sagte er. »Ich will kein Wort mehr darüber hören. Habt ihr mich verstanden?« Er schüttelte heftig den Kopf, aber irgendwie verzweifelt, fast so, als wollte er den Klang meiner Stimme ausblenden. Und er sah mich nicht mal an.
Später, als Dad wieder nach oben gegangen war, um sich mit Ermas Schnaps zu betrinken, und wir Kinder wieder ruhig im Bett lagen, biss Brian mir in den Zeh, um mich zum Lachen zu bringen, aber ich stieß ihn einfach weg. Wir lagen lautlos in der Dunkelheit.
»Dad war richtig komisch«, sagte ich schließlich, weil einer es sagen musste.
»Du wärst auch komisch, wenn Erma deine Mom wäre«, sagte Lori.
»Meint ihr, sie hat früher mit Dad das Gleiche gemacht wie mit Brian?«, fragte ich.
Keiner sagte einen Ton.
Die Vorstellung war widerlich und ungeheuerlich und beängstigend, aber sie würde manches erklären. Warum Dad von zu Hause weggegangen war, sobald er konnte. Warum er so viel trank und warum er so wütend wurde. Warum er, als wir noch kleiner waren, nie nach Welch fahren wollte. Warum er sich zuerst geweigert hatte, mit uns nach West Virginia zu kommen, und sich erst im letzten Moment überwunden hatte, zu uns ins Auto zu steigen. Warum er so heftig den Kopf geschüttelt hatte, als wollte er nicht hören, was ich ihm über die Sache mit Erma und Brian zu sagen hatte.
»Denk nicht über so was nach«, sagte Lori schließlich zu mir. »Das macht dich nur verrückt.«
Und so schlug ich es mir aus dem Kopf.
Mom und Dad erzählten uns, wie sie nach Phoenix gekommen waren, aber dort feststellen mussten, dass Moms Trick mit der Wäsche auf der Leine doch nicht funktioniert hatte und unser Haus auf der North Third Street geplündert worden war. So ziemlich alles war verschwunden, selbstverständlich auch unsere Fahrräder. Sie hatten einen Anhänger gemietet, um das Wenige mitzunehmen, was noch da war -Mom sagte, die idiotischen Diebe hätten ein paar gute Sachen übersehen, zum Beispiel eine qualitativ hochwertige Reithose von Grandma Smith aus den dreißiger Jahren aber in Nashville hatte der Motor des Oldsmobile einen Kolbenfresser gehabt, und sie mussten das Auto zusammen mit dem Anhänger und Grandma Smith' Reithose zurücklassen und den Bus nach Welch nehmen.
Ich dachte, jetzt, wo Mom und Dad wieder da waren, könnten wir Frieden mit Erma schließen. Die meinte jedoch, sie könne uns Kindern niemals vergeben und wolle uns nicht mehr im Haus haben, selbst wenn wir im Keller blieben und uns mucksmäuschenstill verhielten. Wir wurden vertrieben. Das war das Wort, das Dad benutzte. »Ihr habt euch schlecht benommen«, sagte er, »und jetzt werden wir von hier vertrieben.«
»Das hier ist nicht gerade der Garten Eden«, sagte Lori.
Die Sache mit meinem Fahrrad machte mir mehr aus als unsere Vertreibung aus Ermas Haus. »Warum gehen wir nicht einfach wieder zurück nach Phoenix?«, fragte ich Mom.
»Da waren wir doch schon«, sagte sie. »Und hier gibt es alle möglichen Chancen, von denen wir noch gar keine Ahnung haben.«
Also machten sie und Dad sich auf die Suche nach einer Bleibe für uns. Die billigste Mietwohnung in Welch lag über einem Diner auf der McDowell Street und sollte
Weitere Kostenlose Bücher