Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schloss aus Glas

Schloss aus Glas

Titel: Schloss aus Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeanette Walls
Vom Netzwerk:
benutzen«, sagte ich. Ermas Gesicht wurde vor Verblüffung ganz leer. »Mom sagt, sie sind wie wir«, redete ich weiter, »nur dass sie eine andere Hautfarbe haben.«
    Erma starrte mich zornig an. Einen Moment lang dachte ich, sie würde mich ohrfeigen, doch stattdessen sagte sie: »Du undankbare kleine Scheißgöre. Bild dir bloß nicht ein, dass du heute Abend mein Essen isst. Los, beweg deinen nutzlosen Hintern runter in den Keller.«
    Lori fiel mir um den Hals, als sie hörte, dass ich Erma Widerworte gegeben hatte. Aber Mom war aufgebracht. »Mag ja sein, dass wir Ermas Ansichten nicht alle teilen«, sagte sie, »aber wir müssen höflich sein, solange wir ihre Gäste sind.«
    Das sah Mom gar nicht ähnlich. Sie und Dad wetterten hemmungslos über jeden, den sie nicht ausstehen konnten oder verachteten: Manager von Standard Oil, J. Edgar Hoover und vor allem Snobs und Rassisten. Sie hatten uns immerzu ermutigt, unsere Meinung zu sagen. Und jetzt sollten wir uns auf die Zunge beißen und uns von Erma alles gefallen lassen. Aber sie hatte Recht; Erma würde uns rausschmeißen. Solche Situationen, das wurde mir klar, machten Menschen zu Heuchlern.
    »Ich hasse Erma«, sagte ich zu Mom. »Du solltest Mitleid mit ihr haben«, sagte Mom. Erma sei nur eine unzufriedene Frau, deren Eltern gestorben waren, als sie noch klein war, erklärte Mom, und danach sei sie von einem Verwandten zum nächsten weitergereicht worden, die
    sie alle wie ein Dienstmädchen behandelten. Sie musste Wäsche auf dem Waschbrett scheuern, bis ihre Knöchel bluteten - das war die hervorstechendste Erinnerung, die Erma an ihre Kindheit hatte. Das schönste Geschenk, das Grandpa ihr machen konnte, nachdem sie geheiratet hatten, war der Kauf einer Waschmaschine, aber die Freude, die sie damals bestimmt empfunden hatte, war längst verflogen.
    »Erma kann ihr Elend einfach nicht loslassen«, sagte Mom. »Sie kennt ja nichts anderes.« Mom fügte hinzu, dass man niemanden hassen sollte, nicht einmal seine schlimmsten Feinde. »Jeder Mensch hat eine gute Seite«, sagte sie. »Man muss sie nur suchen und den Menschen dafür mögen.«
    »Ach ja?«, sagte ich. »Und was ist mit Hitler? Was für eine gute Seite hatte der?«
    »Hitler war Hundenarr«, sagte Mom wie aus der Pistole geschossen.
    Gegen Ende des Winters beschlossen Mom und Dad, mit dem Oldsmobile noch einmal nach Phoenix zu fahren. Sie sagten, sie würden unsere Fahrräder holen und den ganzen anderen Kram, den wir zurücklassen mussten. Außerdem wollten sie Kopien von unseren Schulzeugnissen besorgen und nachsehen, ob Moms Schießbogen aus Obstholz noch in dem Straßengraben am Highway zum Grand Canyon lag. Wir Kinder sollten in Welch bleiben. Da Lori die Älteste war, sagten Mom und Dad, sie hätte die Verantwortung für uns. Und die Oberaufsicht hatte natürlich Erma.
    Sie fuhren eines Morgens bei Tauwetter los. Moms glühende Wangen verrieten mir, dass sie sich auf das Abenteuer freute. Und auch Dad konnte es offensichtlich kaum erwarten, aus Welch rauszukommen. Er hatte keinen Job gefunden, und wir waren völlig von Erma abhängig. Lori hatte vorgeschlagen, Dad sollte sich Arbeit im Bergwerk suchen, aber Dad sagte, die Bergwerke würden von den Gewerkschaften kontrolliert und die Gewerkschaften von Banditen und die Banditen hätten ihn auf dem Kieker, weil er in Phoenix die Korruption in der Elektrikergewerkschaft angeprangert hatte. Er wollte auch deshalb nach Phoenix, wie er sagte, um sein Beweismaterial über die Korruption zu holen, denn er würde nur dann einen Job im Bergwerk bekommen, wenn er mithalf, die amerikanische Bergarbeitergewerkschaft zu reformieren.
    Am liebsten hätte ich es gehabt, wir wären alle zusammen gefahren. Ich wollte zurück nach Phoenix, wollte hinter unserem Adobe-Haus unter den Orangenbäumen sitzen, mit dem Fahrrad zur Bücherei fahren, kostenlose Bananen in einer Schule essen, wo die Lehrer mich für schlau hielten. Ich
    wollte die Wüstensonne auf dem Gesicht spüren und die trockene Wüstenluft einatmen und die steilen, felsigen Berge hinaufklettern, wenn Dad mit uns lange Wanderungen unternahm, die er als geologische Erkundungsexpeditionen bezeichnete.
    Ich fragte Dad, ob wir mitkommen könnten, aber er erklärte, Mom und er wären ja bald wieder da, sie wollten wirklich nur die paar Sachen erledigen, und dabei würden wir Kinder nur stören. Außerdem, sagte er, müssten wir ja zur Schule. Ich wandte ein, dass ihn das früher nie gestört hatte.

Weitere Kostenlose Bücher