Schloss aus Glas
sie nicht genug Bewegung hatte. »Ich werde mit Gymnastik anfangen«, verkündete sie. »Wenn das Blut schön zirkuliert, sieht man die Welt mit ganz anderen Augen.« Und sie beugte sich nach vorn und berührte ihre Zehen.
Als sie wieder hochkam, sagte sie, sie fühle sich schon besser, und berührte noch einmal ihre Zehen. Ich saß mit vor der Brust verschränkten Armen am Schreibtisch und sah zu. Ich wusste, dass unser Problem nicht in einer schlechten Blutzirkulation lag. Wir brauchten keine Gymnastikübungen, wir brauchten drastische Maßnahmen. Ich war inzwischen zwölf, und um unsere Möglichkeiten abzuwägen, hatte ich in der Stadtbücherei ein wenig recherchiert und Augen und Ohren offen gehalten, wie sich andere Familien in unserer Straße durchs Leben schlugen. Ich hatte mir einen Plan überlegt und wartete nur noch auf die Gelegenheit, ihn Mom zu unterbreiten. Der Augenblick schien günstig.
»Mom, wir können so nicht weiterleben«, sagte ich.
»So schlecht geht's uns doch gar nicht«, sagte sie. Sie streckte jetzt vor jeder Zehenberührung die Arme in die Luft.
»Seit drei Tagen haben wir bloß Popcorn gegessen«, sagte ich.
»Du bist immer so negativ«, sagte sie. »Du erinnerst mich an meine Mutter - nörgel, nörgel, nörgel.«
»Ich bin nicht negativ«, sagte ich. »Ich versuche bloß, realistisch zu sein.«
»Ich tue mein Bestes, unter den gegebenen Umständen«, sagte sie. »Warum machst du nie deinen Vater für irgendwas verantwortlich? Der ist nämlich kein Heiliger.«
»Das weiß ich«, sagte ich. Ich fuhr mit einem Finger an der Tischkante entlang, wo Dad immer seine Zigaretten ablegte, sodass sie mit schwarzen Brandstellen übersät war und wie eine Zierleiste aussah. »Mom, du musst Dad verlassen«, sagte ich.
Sie hörte abrupt mit ihren Dehnübungen auf. »Ich hab mich wohl verhört«, sagte sie. »Ausgerechnet du wendest dich gegen deinen Vater.« Ich sei doch Dads letzte Verteidigerin, fuhr sie fort, die Einzige, die so tat, als würde sie ihm seine ganzen Ausflüchte und seine Geschichten abkaufen, und die ihm das Gefühl gab, dass sie an seine Pläne für die
Zukunft glaube. »Er liebt dich über alles«, sagte Mom. » Wie kannst du ihm das antun?«
»Ich mache Dad keinen Vorwurf«, sagte ich. Und das stimmte auch. Aber Dad war offenbar wild entschlossen, sich selbst zu zerstören, und ich hatte Angst, dass er uns alle mit ins Verderben zog. Es war ein einfaches physikalisches Gesetz. Das hatte er mir selbst beigebracht. »Mom, wir müssen weg von ihm.«
»Aber ich kann euren Vater nicht verlassen!«, sagte sie.
Wenn sie Dad verlassen würde, erklärte ich Mom hätte sie Anrecht auf Sozialhilfe, was jetzt nicht der Fall war, weil sie einen arbeitsfähigen Ehemann hatte. Einige aus meiner Schule - ganz zu schweigen von der Hälfte der Leute in unserer Straße - lebten von Sozialhilfe, und das war gar nicht so schlecht. Ich wusste, dass Mom nichts von Sozialhilfe hielt, aber die Kinder, deren Eltern Sozialhilfe bezogen, bekamen Essensmarken und Zuschüsse für Kleidung. Der Staat bezahlte die Kohle für sie und das Essen in der Schule.
Mom wollte nichts davon hören. Sozialhilfe, so sagte sie, würde uns Kindern irreparable psychische Schäden zufügen. Man kann ruhig ab und zu mal Hunger haben, aber wenn man dann was isst, geht's einem wieder gut, meinte sie. Und man kann ruhig ab und zu mal frieren, irgendwann wird man auch wieder warm. Aber bezieht man erst mal Sozialhilfe, dann verändert man sich. »Selbst wenn man später keine Sozialhilfe mehr bekommt, das Stigma, dass man ein Sozialfall war, wird man nie wieder los«, sagte sie. »Da ist man fürs Leben gezeichnet.«
»Na gut«, sagte ich. »Wenn wir keine Sozialfälle sind, dann such dir einen Job.« In McDowell County herrschte Lehrermangel wie damals in Battie Mountain. Sie könnte im Handumdrehen eine Stelle finden, sagte ich, und wenn sie ein regelmäßiges Gehalt hätte, könnte sie mit uns Kindern in eine kleine Wohnung in der Stadt ziehen.
»Das hört sich aber nach einem furchtbaren Leben an«, sagte Mom.
»Schlimmer als jetzt?«, fragte ich.
Mom wurde still. Sie schien nachzudenken. Dann blickte sie auf. Sie lächelte heiter. »Ich kann euren Vater nicht verlassen«, sagte sie schließlich. »Das ist gegen den katholischen Glauben.« Dann seufzte sie. »Und überhaupt, du kennst doch deine Mom. Ich bin süchtig nach Aufregung.«
Mom erzählte dad nie, dass ich ihr geraten hatte, ihn zu verlassen. In
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