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Schloss aus Glas

Schloss aus Glas

Titel: Schloss aus Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeanette Walls
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den Ecken. Die Feuchtigkeit griff die Holztreppe an, die zum Haus hinaufführte, sodass es von Tag zu Tag gefährlicher wurde, sie zu benutzen. Mom brach durch eine morsche Stufe und purzelte den Hang hinunter. Sie hatte wochenlang blaue Flecken an Armen und Beinen. »Mein Mann schlägt mich nicht«, sagte sie, wenn jemand sie komisch ankuckte. »Er repariert einfach die Treppr nicht.«
    Auch die Veranda fing an zu modern. Das Geländer war größtenteils schon weggebrochen, und die Bodenbretter waren vom Schimmel und den Algen porös und glitschig geworden. Richtig problematisch wurde es, wenn man nach unten vors Haus aufs Klo musste, und jeder von uns rutschte mindestens ein Mal aus und fiel von der Veranda, gut drei Meter tief.
    »Mit der Veranda muss dringend was geschehen«, sagte ich zu Mom. »Es ist lebensgefährlich, im Dunkeln aufs Klo zu gehen.« Außerdem, so fügte ich hinzu, war die Toilette einfach nicht mehr zu benutzen. Sie war überschwemmt, und es war besser, sich irgendwo am Hang ein Loch zu buddeln.
    »Du hast Recht«, sagte Mom. »Es muss was geschehen.«
    Also kaufte sie einen Eimer. Er war aus gelbem Plastik, und wir stellten ihn in der Küche auf den Boden und benutzten ihn, wenn wir aufs Klo mussten. Wenn er voll war, fasste sich einer von uns ein Herz, trug ihn nach draußen, grub ein Loch und leerte ihn aus.
    Eines Tages, als Brian und ich wieder einmal draußen am Hang herumstromerten, nahm er ein Stück vermodertes Holz hoch, und da, mitten unter den Asseln und sonstigem Krabbelgetier, lag ein Diamantring. Der Stein war groß. Zuerst dachteii wir, es wäre bloß billiger Strass, aber als wir ihn mit Spucke polierten und mit ihm über Glas kratzten, wie Dad es uns gezeigt hatte, wussten wir, dass er echt sein musste.
    »Was meinst du, wie viel der wert ist?«, fragte ich Brian.
    »Wahrscheinlich mehr als das Haus«, sagte er.
    Wir malten uns aus, was wir alles mit dem Geld machen könnten, wenn wir den Ring verkauften: Lebensmittel kaufen, das Haus abbezahlen - Mom und Dad waren mit der monatlichen Rate im Rückstand, und es hieß, der Besitzer wollte uns auf die Straße setzen -, und vielleicht wäre ja dann sogar noch genug übrig, um für jeden von uns etwas Besonderes zu kaufen, zum Beispiel neue Turnschuhe.
    Wir gingen nach Hause und zeigten Mom den Ring. Sie hielt ihn ins Licht und sagte dann, wir müssten ihn schätzen lassen. Am nächsten Tag fuhr sie mit dem Greyhound-Bus nach Bluefield. Als sie wiederkam, sagte sie, es sei tatsächlich ein zweikarätiger Diamant.
    »Und was ist er wert?«, fragte ich.
    »Das spielt keine Rolle«, sagte Mom.
    »Wieso nicht?«
    »Weil wir ihn nicht verkaufen.«
    Sie wolle ihn behalten, erklärte sie, als Ersatz für den Ehering, den ihre Mutter ihr geschenkt hatte und der von Dad kurz nach ihrer Hochzeit versetzt worden war.
    »Aber, Mom«, sagte ich. »Der Ring könnte uns lange satt machen.«
    »Das stimmt«, sagte Mom, »aber er könnte auch meine Selbstachtung verbessern. Und in Zeiten wie diesen ist Selbstachtung noch wichtiger als Essen.«
    Moms Selbstachtung konnte damals wirklich etwas Auftrieb gebrauchen. Manchmal bekam Mom ihren Moralischen und verkroch sich für mehrere Tage im Bett, wo sie nur weinte und ab und zu Sachen nach uns warf. Sie könnte langst eine berühmte Künstlerin sein, schrie sie, wenn sie keine Kinder hätte, und keiner von uns wüsste zu schätzen, was sie für ein Opfer gebracht hatte. Wenn ihre deprimierte Stimmung am nächsten Tag verflogen war, malte und summte sie vor sich, als wäre nichts gewesen.
    Einmal, an einem Samstagmorgen, kurz nachdem Mom angefangen hatte, den Diamantring zu tragen, war sie ausgesprochen guter Laune und beschloss, dass wir alle zusammen das Haus putzen sollten. Ich war begeistert. Ich schlug vor, wir sollten jedes Zimmer ausräumen, es gründlich sauber machen und nur die Sachen wieder einräumen, die wir wirklich brauchten. Auf diese Weise könnten wir, so hoffte ich insgeheim, den ganzen überflüssigen Kram loswerden. Aber Mom fand meine Idee zu zeitaufwendig, und so lief unsere Putzaktion darauf hinaus, dass wir Papierstapel gerade richteten und schmutzige Klamotten in die Kommode stopften. Mom bestand darauf, dass wir bei der Arbeit Ave-Marias sangen. »So reinigen wir nicht nur das Haus, sondern auch unsere Seele«, sagte sie. »Und schlagen zwei Fliegen mit einer Klappe.«
    Dass sie in letzter Zeit manchmal ein wenig niedergeschlagen war, erklärte sie dann, lag nur daran, dass

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