Schloss aus Glas
fensterlose Wohnung im Keller eines alten Hauses in der Nähe. Die Drogendealer, die vorher dort gewohnt hatten, hatten Kraftausdrücke und psychedelische Motive an die Wände und die Rohre an der Decke gesprüht. Der Vermieter ließ sie nicht überstreichen, und Grandpa und Stanley taten es auch nicht.
Grandpa und Stanley hatten aber ein funktionierendes Badezimmer, und so gingen wir jedes Wochenende zu ihnen, um richtig zu baden. Einmal, als ich darauf wartete, ins Bad zu können, setzte ich mich zu Onkel Stanley auf die Couch in seinem Zimmer und kuckte Fernsehen. Grandpa war in der Moose Lodge, wo er sich tagsüber überwiegend aufhielt. Lori saß in der Wanne, und Mom löste in Grandpas Zimmer ein Kreuzworträtsel. Plötzlich spürte ich Stanleys Hand auf meinem Oberschenkel. Ich blickte ihn an, aber er schaute weiter so aufmerksam auf den Bildschirm, dass ich nicht genau wusste, ob er mich mit Absicht berührte, also schob ich seine Hand einfach weg, ohne etwas zu sagen. Einige Minuten später war seine Hand wieder da. Ich blickte nach unten und sah, dass Onkel Stanleys Hose offen war und er mit sich spielte. Ich hätte ihm am liebsten eine geknallt, aber ich hatte Angst, Ärger zu kriegen, so wie Lori, nachdem sie Erma geschlagen hatte, also lief ich zu Mom.
»Mom, Stanley benimmt sich unanständig«, sagte ich.
»Ach, das bildest du dir bestimmt bloß ein«, sagte sie.
»Er hat mich begrapscht! Und er holt sich einen runter!«
Mom legte den Kopf schief und blickte bekümmert. »Der arme Stanley«, sagte sie. »Er ist so einsam.«
»Aber das war ekelhaft!«
Mom fragte, ob mit mir alles in Ordnung sei. Ich zuckte die Achseln und sagte Ja. »Na, siehst du«, sagte sie. Mom erklärte mir, dass ein Verbrechen wie sexuelle Gewalt Wahrnehmungssache sei. »Wenn du nicht glaubst, dass du Schaden genommen hast, dann hast du auch keinen Schaden genommen«, sagte sie. »Es gibt eine Menge Frauen, die eine große Sache aus solchen Dingen machen. Aber du nicht, du bist stärker.« Und sie widmete sich wieder ihrem Kreuzworträtsel.
Danach ging ich nicht wieder zu Grandpa. Stark sein war ja gut und schön, aber ich wollte auf keinen Fall, dass Onkel Stanley dachte, ich käme wieder, damit er mich weiter betatschen konnte. Ich wusch mich, so gut ich konnte, zu Hause. In der Küche hatten wir einen Aluminiumbottich, in den ich so eben reinpasste, wenn ich die Beine an die Brust zog. Mittlerweile war es warm genug draußen, um den Bottich mit dem Wasser aus dem Hahn unter dem Haus zu füllen und in der Küche zu baden. Nach dem Baden hockte ich mich neben den Bottich, tauchte den Kopf ins Wasser und wusch mir die Haare. Wenn uns das Wasser abgestellt worden war, weil wir die Rechnung nicht bezahlt hatten, nahm ich Wasser aus der grünen Plastikmülltonne, in der wir auf der Veranda den Regen auffingen. Mom sagte, Regenwasser sei sowieso besser für die Haare als Leitungswasser.
Im Frühling kam der Regen, und es schüttete tagelang wie aus Eimern. Das Wasser floss die Rinnen an den Hängen hinunter, riss Steine und Bäume mit und ergoss sich über die Straßen, wo sich ganze Brocken aus dem Asphalt lösten. Es stürzte in die Bäche, die anschwollen und sich in hellbraunen Schaum verwandelten, wie Schokoladen-Milchshake. Die Bäche strömten in den Tug, der die Ufer überschwemmte und die Häuser und Geschäfte auf der McDowell Street unter Wasser setzte. In Buffalo Creek Hollow brach das Staubecken eines Bergwerks, und eine zehn Meter hohe Welle schwarzes Wasser riss hundertsechsundzwanzig Menschen in den Tod. Mom sagte, die Natur räche sich an den Menschen, die das Land durch das Abholzen der Wälder und den Tagebau in den Bergen vergewaltigt und ausgeplündert hatten, denn dadurch sei das natürliche Entwässerungssystem zerstört worden.
Die Little Hobart Street lag zu hoch, um überflutet zu werden, aber der Regen spülte Teile der Straße in die Gärten der Leute, die weiter unten am Hang wohnten. Das Wasser wusch auch bedenkliche Mengen von der Erde aus, in der die Stützpfähle unseres Hauses standen. Das Loch in der Küchendecke wurde größer, und dann tropfte es auch noch dort, wo Brian und Maureen schliefen, von der Decke. Brian hatte das obere Bett, und wenn es regnete, breitete er eine Plastikplane über sich aus.
Alles im Haus war klamm. Ein dünner grüner Schimmelfilm überzog die Bücher und Papiere und Gemälde und Anziehsachen, mit denen unser Zimmer voll gestopft war. Kleine Pilze sprossen in
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