Schloss der Engel: Roman (German Edition)
Internatsleben so träge gemacht?«, spöttelte Stefano.
Ich druckste herum. Die Sorge um Christopher ließ nur wenig Raum für andere Gefühle. Und auch Philippes eigenartiges Verhalten beunruhigte mich.
»Nein, aber ich ... ich will lieber bei Philippe vorbeischauen.«
»Oh, ich glaub nicht, dass das eine gute Idee wäre«, mischte sich Antonio ein.
»Warum? Hat er etwa was Besseres vor, als seine treueste Freundin nach sechs langen Internatswochen zu begrüßen?«
»Das soll er dir lieber selbst erklären. Ich werde ihm ausrichten, dass du vorbeikommen wolltest«, antwortete Antonio mit einem süffisanten Grinsen.
Ich schwieg. Mein schlechtes Gewissen erwachte. Ich war selbstsüchtig: Einerseits vermisste ich Philippe, andererseits wusste ich, dass er mir niemals so viel bedeuten würde wie ich ihm, und mein Besuch würde sicher falsche Hoffnungen bei ihm wecken.
Ich wartete voller Sehnsucht auf Christopher und voller Ungeduld auf Philippe. Am Montag ließ sich Philippe dann endlich bei mir blicken. Er reagierte verhalten, als ich ihn stürmisch umarmte. Ansonsten schien alles so zu sein wie immer, abgesehen davon, dass ich ihm eine Frage nach der anderen stellte. Ich wollte wissen, wie nahe ihm die Totenwächterin gekommen war. Offenbar gar nicht. Zumindest hatte Philippe nichts bemerkt – und auch nicht von teuflischen Folterknechten geträumt.
Als mir die Fragen ausgingen, begann ich zu berichten, was ich auf dem Internat erlebt hatte. Obwohl ich mich bemühte, meine Gefühle unter Kontrolle zu halten, entging Philippe meine Unruhe nicht.
»Lynn, was ist passiert?«
»Nichts, warum?«, schützte ich die Unwissende vor.
»Ich kenne dich nun schon so lange. Glaubst du, dass du miretwas vormachen kannst? Du wirkst besorgt – und irgendwie traurig.«
»Da täuschst du dich, ich bin nicht traurig. Und warum sollte ich besorgt sein? Auf dem Internat ist es toll und meine Freunde sind wirklich nett. Du würdest sie auch mögen.«
Ich wich seinem fragenden Blick aus. Ja, er kannte mich besser als alle anderen. Nicht einmal Emilia oder meinen Eltern war etwas aufgefallen. Ich sah aus den Augenwinkeln, wie er seine Hand nach mir ausstreckte, doch er zog sie zurück, bevor sie mich erreichte. Spürte er, dass ich mein Herz an jemand anderen verloren hatte?
»Ach, übrigens, ich hab dir ja noch gar nichts von Lucia erzählt«, begann er.
»Lucia?«
»Ja. Wir sind seit Donnerstag zusammen. Du wirst sie übermorgen kennenlernen.«
Ich war geschockt und erleichtert zugleich. Das also war der Grund, warum ich Philippe nicht besuchen sollte.
»Schön! Ich freu mich darauf, sie zu sehen. Aber besonders freue ich mich natürlich für dich.« Zu lächeln fiel mir leichter als erwartet.
Philippe hatte Lucia vor zwei Wochen beinahe überfahren, erzählte er. Wie aus dem Nichts war sie aus der Seitenstraße aufgetaucht und nur eine Vollbremsung konnte Schlimmeres verhindern. Ich ließ ihn reden. Sein Glück lenkte mich ab.
In der folgenden Nacht verdrängte ich all meine Bedenken und hoffte, von Christopher zu träumen. Nach Philippes Schwärmerei war meine Angst so weit angewachsen, dass ich – vorläufig – zufrieden gewesen wäre, Christopher nur in meinen Träumen zu sehen.
Es wurde eine lange Nacht – eine traumlose.
Frühmorgens wurde ich zu unserer Kletterpartie abgeholt. Die Sonne stand noch nicht in ihrem Zenit, als wir unserenAusgangspunkt erreichten. Stefanos Vater hatte eine mittelschwere Tour ausgewählt, da er uns zu Saisonbeginn nicht überfordern wollte.
Ich sog den Anblick der schroffen Berggipfel in mich auf. So wie ich das Meer wegen seiner scheinbaren Unendlichkeit liebte, mochte ich die Weite der Berge. Sie gaben mir das Gefühl von grenzenloser Freiheit und vertrieben die Horrorszenarien, die ich mir für Christopher ausmalte.
Erst als wir auf dem Rückweg eine steilere Passage hinabkletterten, kehrten meine Ängste zurück: Was tat er jetzt? War er in Sicherheit oder stand er gerade Sanctifer gegenüber? Lebte er noch?
Mir wurde flau – und meine Konzentration ließ nach. Mein Schuh rutschte ab, doch ich fand schnell wieder Halt. War das mein Schutzengel? Würde Christopher es merken, wenn ich abstürzte? Würde er erscheinen?
Für den Bruchteil einer Sekunde spielte ich mit dem Gedanken, ein paar Meter über dem Boden meine Sicherung zu vernachlässigen. Eiskalte Schauer liefen mir über den Rücken, als ich wieder zur Vernunft kam. Wie konnte ich mein Schicksal herausfordern,
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