Schloss der Engel: Roman (German Edition)
passieren wird. Sie werden dich tragen, du wirst es sehen. Fliegen ist ganz einfach. Wie atmen.«
Ich rührte mich nicht.
»Lynn, was ist los?«
»Ich ... ich dachte, ich weiß nicht, ich ... bin ich denn auch ein Engel?«
Arons Lachen tönte warm durch die Baumwipfel. »Lynn, was dachtest du denn? Hast du bei der Einweisung nicht aufgepasst? Im Schloss der Engel werden Schutz- und Wächterengel ausgebildet. Deshalb bist du hier. Auch du wirst bald einer sein – bestimmt ein besonders beeindruckender«, setzte er hinzu.
Sein belustigter Unterton entging mir nicht, doch der Tatsache, dass ich ein Engel sein sollte, traute ich nicht. Und an eine erklärende Einweisung konnte ich mich auch nicht erinnern. Obwohl ich zugeben musste, dass alle meine Mitschüler Engel waren und das mit der Engelschule sicher stimmte.
Noch einmal wagte ich, nach unten zu sehen. Sofort wurde mir schwummrig, und ich klammerte mich am nächstbesten Ast fest.
»Sieh dir Markus an. Schau, wie glücklich er jetzt ist.«
Ich wagte einen Blick zu ihm. Markus glitt mühelos über den See. Die Flügel ausgebreitet, genoss er mit sichtlicher Freudeseine neue Fähigkeit. Ich hingegen blieb, wo ich war. Maulesel hin oder her. Im Moment hätte ich nicht einmal den Abstieg vom Baum geschafft.
Aron seufzte, dann zückte er sein letztes Ass. »Schade, Christopher hat sich so darauf gefreut, dich endlich in deiner Engelsgestalt zu sehen. Aber ich werde dich nicht drängen. Wenn du willst, bringe ich dich wieder nach unten.«
Ich presste die Zähne zusammen. Christopher beobachtete uns? Und ich stand stur wie der besagte Esel und traute mich weder vor noch zurück! Arons Taktik, mich herauszufordern, ging auf. Warum sollte ein anderer Zeitpunkt besser geeignet sein als dieser?
Mit hämmerndem Herzen ließ ich den Zweig los und schob mich auf den fußbreiten Ast vor mir. Ein Blick in die Tiefe ließ mich erschaudern, und ich schloss schnell die Augen, um den bohrenden Schmerz dahinter zu vertreiben. Bloß nicht nach unten sehen!
»Glaub an deine Fähigkeiten! Lynn, du musst vertrauen.«
Arons Stimme schenkte mir Zuversicht, und ich öffnete mutig die Augen, atmete noch einmal tief durch – und sprang.
Der Fall schien kein Ende zu nehmen. Ich stellte mir Flügel vor, die meinen Körper trugen, malte mir aus, wie gigantische Schwingen sich auf meinem Rücken ausbreiteten, den Wind einfingen und mich in die Lüfte emporhoben – doch nichts geschah. Näher und näher rückte die spiegelnde Oberfläche. Panik breitete sich in mir aus, als ich die Dunkelheit in der Tiefe entdeckte. Sie würde mich nicht mehr hergeben – ich würde in ihr ertrinken.
Der Schmerz, als mein Körper die Wasseroberfläche durchdrang, raubte mir den Verstand. Wütend schien er mich entzweizureißen. Allzu schnell sank ich hinab.
Grüne Pflanzen umgaben mich, hüllten mich ein in ihr waberndes Gewand und schlangen sich um meinen Körper. Ichschrie, doch mein Hilferuf verhallte und mit ihm meine Reserve an lebensnotwendiger Atemluft.
Die Dunkelheit streckte ihre Fühler nach mir aus, verdichtete sich zu etwas Greifbarem, das mich zu sich zog – und ich fiel weiter, hinab in die Tiefe, hinein in das undurchdringbare Pflanzennetz.
Ich fühlte, wie meine Lungen nach Sauerstoff verlangten, mich drängten, meinen Brustkorb auszuweiten. Entschlossen widerstand ich dem Zwang, einzuatmen. Ich musste nach oben. Sofort! Zurück zum Licht.
Mit aller Macht versuchte ich, mich aus dem dichten Blätterwald zu befreien, und verstrickte mich nur noch tiefer in seinen Fängen. Je heftiger ich mich wehrte, umso fester hielt er mich umschlungen. Es war ein aussichtsloser Kampf – er würde mich nicht freigeben. Ich war gefangen, wie die Fliege im Spinnennetz, und je mehr ich zappelte, umso fester zog sich die Falle um ihre Beute – um mich!
Mein Kopf dröhnte. Vernunft kämpfte gegen Panik. Mein Körper reagierte mit Flucht – Lähmung wäre so viel klüger gewesen.
Vor meinen Augen verschwammen die Pflanzen zu einer schemenhaften Gestalt. Kälte griff nach mir und schnürte mein Herz zusammen. Ich schloss die Augen und blendete das Trugbild aus. Trotz meiner Angst ließ ich alle Muskeln erschlaffen und verharrte reglos in meinem grünen Gefängnis. Der Griff der Schlingpflanzen lockerte sich. Langsam gaben sie mich frei.
Meine Lungen brannten unbarmherzig und forderten nach frischer Luft. Ich zwang mich zu äußerst vorsichtigen Bewegungen – jedes hektische Rudern, jede
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