Schloß der verlorenen Seelen
sie besorgt.
“Seit heute morgen. Das heißt, manchmal auch schon vorher, aber da war es nie so schlimm.”
“Dann solltest du besser heute im Bett bleiben.” Camilla überlegte, ob sie ihrer Schwester eine Kopfschmerztablette geben sollte.
“Nein, ich will nicht im Bett bleiben”, erwiderte Laura. Sie schlug die Hände zusammen. “Bitte, gib mir Dorothy zurück. Cathy hat sie mir doch geschenkt. Ich habe sie lieb.”
“Laura, das ist keine Puppe für dich”, sagte die junge Frau. “Ich kaufe dir jede Puppe, die du haben möchtest, aber Cathys Puppe sollte nicht bei dir sein.” Sie stand auf und ging ins Bad hinüber, um eine Tablette für ihre Schwester zu holen.
Später als gewöhnlich kamen sie an diesem Morgen zum Frühstück. Die Zwillinge und Mr. Gordon hatten bereits das Zimmer verlassen, um zu lernen. Der Earl of Danemore war vor zehn Minuten aufs Gut hinausgefahren. Nur Lady Mabel saß noch am Frühstückstisch und las ihre Post.
“Tut mir leid, daß es so spät geworden ist”, entschuldigte sich Camilla.
“Das macht nichts”, meinte Lady Mabel. “Ihr seid schließlich hier, um euch zu erholen.” Sie sah Laura an. “Was hast du denn, Kleines?” fragte sie. “Heute morgen siehst du gar nicht gut aus.”
“Sie hat ein bißchen Kopfschmerzen”, antwortete Camilla anstelle ihrer Schwester. “Ich habe ihr bereits eine Tablette gegeben. Im Bett liegenbleiben wollte sie nicht.”
“Camilla hat mir Dorothy weggenommen”, beklagte sich Laura.
Die beiden Frauen wechselten einen kurzen Blick. “Deine Schwester hat ihre Gründe dafür”, meinte die Hausherrin zu Laura. “Glaube mir, es ist wirklich besser so. Cathys Puppe gehört der Vergangenheit an, und oft ist es besser, die Vergangenheit ruhen zu lassen.” Sie schenkte der Kleinen ein Lächeln. “Mach nicht so ein mißmutiges Gesicht, Laura, das steht dir überhaupt nicht. Sag mal, hast du Lust, mich nachher zu meiner Freundin zu begleiten? Sie hat zwei Mädchen in deinem Alter.” Lady Mabel wandte sich an Camilla. “Meine Freundin ist krank geworden, und ich habe versprochen, sie zu besuchen.”
“Sind die Mädchen nett?” erkundigte sich Laura.
“Sehr nett sogar”, erwiderte Lady Mabel. “Camilla, möchtest du auch mitkommen?”
“Ich würde gerne mitkommen, Mabel, aber ich habe mich schon mit Mister Powell verabredet. Wir wollen zum Meer reiten.”
“Ich kann Mister Powell nicht ausstehen”, erklärte Laura.
“Wieso denn das?” fragte Camilla überrascht. Sie griff nach einem Toast und bestrich ihn für ihre Schwester mit Butter und Honig.
“Mister Powell ist ein Hexenmeister”, erklärte die Siebenjährige. “Cathy hat es mir gesagt.” Sie blickte von ihrer Schwester zu Lady Mabel. “Mister Powell ist der Mann, der Cathy in das Bild verbannt hat.”
Camilla wußte nicht, ob sie lachen sollte oder schimpfen. “Laura, erinnerst du dich, gestern hast du etwas Ähnliches über Mister Gordon gesagt.”
“Nein, das stimmt nicht”, behauptete Laura. “Ich habe nur gesagt, daß Mister Gordon böse ist, weil er mich gezeichnet hat. Cathy sagt, wenn man gezeichnet wird, könnte die Seele in ein Bild gesperrt werden.” Sie griff nach dem Toast. “Mister Powell ist viel schlimmer als Mister Gordon.” Fast trotzig fügte sie hinzu: “Er lebt von dem Blut kleiner Mädchen.”
“Hör endlich mit diesem Unsinn auf”, befahl Camilla außer sich. Es war das erstemal, daß sie den Wunsch verspürte, Laura zu schlagen. Sie schämte sich gleichzeitig dieses Gefühls. Es war ihr klar, daß es eigentlich nicht Laura war, die diese Worte sprach, sondern sie dem entsprangen, was in ihrem Innern vor sich ging.
Lady Mabel spürte Camillas Wut. Sie warf ihr einen warnenden Blick zu. Dann sprach sie von dem Geburtstag der Zwillinge, der dieses Jahr zwei Tage vor Ende der Ferien fiel. “Wir werden ein großes Fest geben, Laura, eine richtige Kindergesellschaft. Es wird dir bestimmt Spaß machen.”
“Ich liebe Kindergesellschaften.” Laura schenkte ihr ein entwaffnendes Lächeln. Sie umfaßte mit beiden Händen ihr Milchglas und führte es an die Lippen. “Darf ich aufstehen und auf die Terrasse gehen?” fragte sie einige Minuten später.
“Ja, geh nur”, erlaubte Camilla.
“Aber vergiß nicht, wir haben heute noch etwas vor. In einer halben Stunde möchte ich fahren, Laura”, mahnte Lady Mabel.
“Ist gut, Tante Mabel.” Die Kleine rannte davon.
“Es wird mit Laura immer schlimmer”, meinte Camilla
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