Schloß der verlorenen Seelen
arbeitete er.
Laura wurde aufmerksam. Sie rannte zu ihm, blickte ihm über die Schulter. “Das bin ja ich”, rief sie freudig aus. “Darf ich das Blatt behalten?”
“Dieses nicht, aber warte einen Augenblick.” Mr. Gordon begann mit einer neuen Zeichnung. Mit wenigen Strichen bannte er Lauras Gesicht auf das Papier. “So.” Er riß das Blatt vom Block und schenkte es ihr.
“Danke. Danke, Mister Gordon.” Laura umarmte ihn. “Sie sind der netteste Lehrer, den ich kenne”, versicherte sie und rannte zu den Zwillingen zurück.
“Wir sollten langsam aufbrechen”, meinte Camilla.
Roger blickte zum Himmel. “Ja, es wird besser sein. Sieht aus, als würde es heute noch regnen.” Er klappte den Skizzenblock zu und verstaute ihn wieder in der Tasche. Dann half er Camilla, die Sachen zusammenzupacken.
Die Kinder rannten zum Wagen voraus. Laura wirkte nicht anders als Donald und Edmund, und plötzlich mußte Camilla über die Sorgen lachen, die sie sich machte. Lady Mabel hatte völlig recht. Es wäre unsinnig, Danemore Castle zu verlassen. Auch wenn es vieles auf diesem Besitz gab, das sie sich nicht erklären konnte, Laura fühlte sich jedenfalls hier wohl, und sie genoß die Gesellschaft der Zwillinge.
12. Kapitel
Camilla hatte sich vorgenommen, auch nachts auf Laura aufzupassen, aber bereits nach der ersten Nacht stellte sie fest, daß es nicht möglich war. Sie schaffte es nicht, wach zu werden, wenn ihre Schwester aufstand. Die junge Frau wußte genau, daß dem kleinen Mädchen in Cathys Zimmer nichts passieren konnte, dennoch war ihr nicht wohl bei dem Gedanken, daß Laura in der Nacht durch das Haus geisterte.
Am Morgen nach dem Ausflug saß Laura gedankenverloren beim Frühstück. Die Zwillinge schwärmten noch immer von der Fahrt nach Penrith und ihrem Streifzug durch die Hügel. Sie baten ihren Lehrer, den Ausflug bald zu wiederholen.
“An mir soll es nicht liegen”, meinte Roger Gordon. “Kommt ganz auf eure Leistungen an.”
“Sehr gut gesprochen, Mister Gordon”, lobte der Earl of Danemore.
“Andere Kinder müssen nicht in den Ferien lernen”, beschwerte sich Donald wieder einmal.
“Andere Kinder waren sicher auch während des Schuljahres fleißiger”, bemerkte sein Vater. “Ich hatte euch gewarnt. Ihr wußtet, daß euch in den Ferien Nachhilfeunterricht erwartet, wenn ihr schlechte Zensuren bringt.”
“Meine Kinder werden einmal nicht lernen müssen”, erklärte Edmund. “Die dürfen in den Ferien nur spielen.”
“Nun, wie ich das sehe, kommt euer Spiel auch nicht zu kurz”, warf Lady Mabel ein.
Mr. Gordon stand auf. “Es wird Zeit, ins Schulzimmer zu gehen”, meinte er zu den Zwillingen. Er wandte sich an Laura. “Kommst du auch gleich mit?”
Das Mädchen schüttelte den Kopf. “Ich habe keine Lust mehr, in den Ferien zu lernen”, sagte sie zur Verwunderung aller. “Ich will auf der Terrasse spielen.”
Roger warf Camilla einen überraschten Blick zu. Dann hob er die Schultern. “Nun, womöglich überlegst du es dir noch anders”, bemerkte er und verließ mit den Zwillingen den Frühstücksraum.
“Was hast du denn plötzlich gegen Mister Gordon, Laura?” erkundigte sich der Earl of Danemore.
“Ja, das würde mich auch interessieren”, sagte Camilla. “Mister Gordon ist doch immer sehr nett zu dir.” Sie konnte ihre Schwester nicht verstehen. Noch am Vortag hatte Laura förmlich an Rogers Lippen gehangen und war so stolz auf die Skizze gewesen, die er von ihr gemacht hatte.
Laura sah die Erwachsenen ernst an. “Ich habe Cathy erzählt, daß Mister Gordon mich gemalt hat. Sie ist darüber sehr erschrocken. Cathy hält Mister Gordon für böse. Sie meinte, würde versuchen, mit der Zeichnung meine Seele einzufangen und sie dann auch in ein Bild zu sperren.”
Sekundenlang war es so still, daß man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Dann fragte der Earl: “Wie kommst du denn auf so eine Idee, Laura? Um deine Seele einzufangen, müßte Mister Gordon doch zaubern können.”
“Er könnte ein Hexenmeister sein.” Die Kleine stand auf. “Darf ich jetzt spielen gehen?”
“Ja, lauf nur, Laura”, gestattete Camilla. “Ich komme nachher auch auf die Terrasse.”
Lady Mabel wartete, bis Laura das Zimmer verlassen hatte, dann fragte sie nachdenklich: “Hast du deiner Schwester von den Kindern in den Bildern erzählt?”
“Ich werde mich hüten, so etwas zu tun”, erwiderte die junge Frau, “aber sie könnte durch Donald und
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