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Schloß Gripsholm

Schloß Gripsholm

Titel: Schloß Gripsholm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kurt Tucholsky
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innerlich geweint wird und das man nicht hört.
    Trappeln. Schurren. Türenklappen. Kein Wort: eine
    stumme Schar näherte sich. Also war sie dabei. Du großer
    Gott —
    Die Tür öffnete sich majestätisch, als habe sie sich
    allein aufgetan. Im Rahmen stand die Frau Direktor, der
    ‚Teufelsbraten‘: die Adriani. Ihren Beinamen hatte sie von
    ihrem Lieblingsschimpfwort.
    Sie war nicht sehr groß; eine stämmige, untersetzte
    Person, mit rötlichem Haar, graugrünlichen Augen und
    fast unsichtbaren Augenbrauen. Sie sprach schnell und
    hatte eine Art, die Leute anzusehn, die keinem guttat …
    „Was machst du hier?“ Das Kind duckte sich. „Was du
    hier machst?“ Sie ging dabei auf die Kleine zu und gab
    ihr eine Art Knuff gegen den Kopf — es war nicht einmal
    eine Ohrfeige; der Schlag ignorierte, daß da ein Kopf war:
    er verfügte nur über das vorhandene Material. Zufällig war
    es ein Kopf. „Ich habe … ich … ich bin …“ — „Du bist ein
    Teufelsbraten“, sagte die Adriani. „Drückst dich hier oben
    herum, während unten geturnt wird! Heute abend kein
    Essen. In die Schar!“ Das Kind schlich unter die andern;
    sie machten ihm hochmütig und mit artigem Abscheu
    Platz.
    Dies war eine Kinderkolonie, Läggesta, in der viele
    deutsche Kinder waren und auch einige schwedische und
    dänische. Frau Adriani nützte ihr Besitztum am Mälarsee
    auf diese Weise gut aus. Zwei Nichten halfen ihr bei der
    Arbeit: die eine, wie ein Ableger der Tante, gehaßt und
    gefürchtet wie sie; die andre sanft, aber unterdrückt und
    furchtsam; sie versuchte zu mildern, wo sie konnte — es
    gelang ihr selten. Wenn die Alte ihre Tage hatte, waren
    die beiden Nichten nicht zu sehen. Sie hatte vierzig Kin-
    der. Sie hatte keine Kinder. Und die vierzig hatten es nicht
    gut. Die Frau plagte sich viel um die Kinder; aber sie war
    hart zu ihnen, sie schlug. Schlug sie gern …? Sie herrschte
    gern. Jedes Kind, das die Kolonie vor der Zeit verließ, war
    in ihren Augen ein Verräter; sie hätte nicht sagen können,
    woran; jedes, das hinzukam, eine willkommene Bereiche-
    rung des Materials, auf dem sie regierte. Wenn sich auch
    viele Kinder beklagten und fortgenommen wurden — : sie
    hatte viele Waisen darunter, und es kamen immer neue
    Mädchen.
    Kommandieren … Damit hatte sie es nun sonst nicht
    leicht. Denn wo sich die Schweden beugen, verbeugen sie
    sich höflich, weil sie es so wollen. Sie gehorchen nur, wenn
    sie eingesehen haben, daß es hier und an dieser Stelle nö-
    tig, nützlich oder ehrenvoll ist, zu gehorchen … sonst aber
    hat einer, der in diesem Lande herrschen will, wenig Gele-
    genheit dazu. Man verstände ihn gar nicht; man lachte ihn
    aus und ginge seiner Wege.
    Frau Adriani wechselte oft ihr Personal und brachte
    sich die Angestellten häufig aus Deutschland mit, wohin
    sie manchmal reiste. Im Winter saß sie hier oben fast
    allein, nur wenige Kinder blieben dann da — wie zum
    Beispiel die kleine Ada. Ihr Mann … wenn Frau Adriani
    an ihren Mann dachte, war es, wie wenn sie eine Fliege
    verjagen mußte. Dieser Mann … sie zuckte nicht einmal
    mehr die Achseln. Er saß in seinem Zimmer und ordnete
    Briefmarken. Sie verdiente das Geld. Sie. Und im Winter
    wartete sie auf den Sommer — denn der Sommer war ihre
    Zeit. Im Sommer konnte sie durch die langen Korridore
    des Landhauses donnern und befehlen und verbieten und
    anordnen, und alles um sie herum fragte sich gegenseitig
    nach ihrer Stimmung und zitterte vor Furcht, und sie ge-
    noß diese Furcht bis in die Haarspitzen. Fremde Willen
    unter sich fühlen — das war wie … das war das Leben.
    „Jetzt bleiben alle hier oben, bis es zum Essen klingelt.
    Wer spricht, hat Essen-Entzug. Sonja! Deine Haarschleife!“
    Ein Mädchen riß sich, puterrot, die Schleife, die sich gelöst
    hatte, aus den Haaren und band sie von neuem. Es war so
    still — man hörte vierzig kleine Mädchen atmen. Frau Ad-
    riani genoß mit einem kalten Blick ihrer grau-grünen Au-
    gen die Situation, dann ging sie hinaus. Hinter ihr zischelte
    es zwiefach: das waren die, die, ganz leise, sprechen woll-
    ten, und die andern, die die Flüsternden mit einem „Pst!“
    daran zu hindern suchten. Das Kind stand für sich allein.
    Kleine Mädchen können sehr grausam sein. Es war sonst
    keine bestraft worden, am heutigen Tage — die Majorität
    hatte also stillschweigend beschlossen, das Kind fallen zu
    lassen. Das Kind hieß ‚das Kind‘, weil es einmal auf die
    Frage der

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